Weimar-Lese

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Die glückliche Bekanntschaft des alten Goethe mit dem jungen Felix Mendelsohn Bartholdy war für beide eine aüßerst beeindruckende und nachhaltige Begegnung. Der Musikkenner und Literaturwissenschaftler Horst Nalewski erzählt von dem außergewöhnlichen Aufeinandertreffen und Zusammenwirken zweier Künstler.

 

Horst Nalewsiki: Goethe hat ihn bewundert (inkl. CD mit Hörbeispielen)

 

 

"...zur Music gehörig vorbereitet und durch besondere Mäntel ausgezeichnet"

Eberhard Neumeyer

Vorwort

Als zum hundertsten Jahrestag der Einweihung des zweiten Weimarer Wilhelm-Ernst-Gymnasiums in der Amalienstraße die erste Schulschrift entstand, schrieben wir das Jahr 1987 und das Wort Gymnasium wurde allmählich vom bürgerlichen Unwort zum realen Begriff. Die Weimarer Schule, in der das damals geschah, hieß Goethe-Oberschule, eine „zehnklassige polytechnische" Schule, sozialistisch und mit gutem Namen,  ausstrahlend neben dem Unterricht in literarischen und musikalischen Projekten, eines hieß „Ameisenkinder", ein Kinderchor. Etwa zur gleichen Zeit hatte ein Sandstrahl die Schulfassade in der Amalienstraße nicht nur baulich, sondern auch historisch „gereinigt". Der Autor glaubte kurzzeitig, nicht sein vertrautes Schulgebäude vor sich zu sehen. Die Schriftzüge „Soli Deo Gloria" und „Gymnasium" hatten sich unverhofft zurückgemeldet. Dem Wirken des 1993 verstorbenen Weimarer Architekten und Denkmalpflegers Dr. Friedrich Rogge ist es zu danken, dass damals die originale Schulfassade erhalten blieb. Es war das Beispiel, wie nah Politik und Groteske beieinander lagen, aber es war auch die Vorahnung kommender Ereignisse und Auftakt drängender historischer Fragestellungen und Nachforschungen zu Schule und Schulmusik in Weimar, alles ein wenig unter der Namens-Obhut Goethes, zumindest bis 1989. Den Schiller gab's natürlich auch, der zierte eine Erweiterte Oberschule, ein quasi kurz geschnittenes, zunächst vierstufiges Gymnasium, 1990 gerade noch aus zwei Jahrgängen bestehend und Zeugnis einer gescheiterten Schulstruktur. Die Häuser, die Namen, sind noch heute die gleichen, das danken wir tüchtigen Schulleuten auf allen Ebenen – und der Weimarer Klassik.

Die folgende, überarbeitete Schrift zur Musik an Wilhelm-Ernst-Gymnasium und Goethe-Oberschule erschien 2012 als vierteilige Beitragsreihe in der Tageszeitung „Thüringer Allgemeine".

 

1712 bis 1810

Weimars Stadtkantoren gaben auch im Unterricht den Takt vor

                                                              

Die schulische Musikpflege in Weimar seit Gründung des Gymnasiums 1712 ist ein Stück Weimarer Musikgeschichte. Namen wie Bach, Walther, Hummel, Müllerhartung, Mendelssohn-Bartholdy, Liszt finden sich in allen Berichten über das schulische Musikgeschehen. Erste Grundlagen für die Musikerziehung und Musikpraxis waren die Schulordnung von 1712, angefügt an den Gründungserlass des Herzogs Wilhelm Ernst für das Gymnasium Wilhelmo Ernestinum, und die letzte vorherdersche Schulordnung von 1770.

Der Stadtkantor als Chorleiter unterwies die Knaben „in der Kenntnis der Noten, der musikalischen Zeichen und des Takts" einmal in der Woche in der „kleinen Singestunde", dem Vorbereitungsunterricht. Den Chor selbst versammelte er zweimal wöchentlich zur „großen Singestunde", wo er die Mitglieder „unter Zustimmung der Instrumentalmusik (Collegium musicum) sowohl zur Kirchen- als auch anderer vorfallender Musik gehörig vorzubereiten" hatte. Die Chorschüler wurden auf Empfehlung des Stadtkantors und nach Genehmigung des Ephorus (Schulaufseher, ab 1776 Herder als Superintendent) aufgenommen, sie waren durch besondere „Mäntel von den anderen Schülern ausgezeichnet". Bei der Aufnahme in den Chor genossen arme Schüler einen Vorzug, unter der Voraussetzung, dass sie vom Blatt singen konnten – ein Hinweis auf die soziale Bedeutung des Singens. Geringere Ansprüche stellte man an die Kurrende. Deren ca. 30 Mitglieder mussten mindestens lesen können. Sie sangen in der Kirche bei Frühpredigten, Betstunden, Vespern und zweimal in der Woche beim gemeinsamen Umsingen vor den Häusern, dem Ersingen eines kleinen Zuverdienstes. In den Chor konnte übertreten, wer veranlagt war und „in der Figural-Musik etwas getan hatte". Chor und Musikpflege besaßen bereits damals eine aus dem Fürstenhaus heraus gewollte, das Schulleben prägende Stellung. Dies lag in den musikalischen Interessen und Veranlagungen des Fürstenhauses selbst begründet. Herzog Ernst August spielte Geige und Trompete, war vermutlich Schüler Johann Sebastian Bachs, der bekanntlich bis 1717 am Weimarer Hofe seinen Dienst ausübte. Der junge Prinz Johann Ernst komponierte und machte als Schüler des in Weimar wirkenden Organisten, Komponisten und Musiktheoretikers Johann Gottfried Walther, Verfasser des ersten Musiklexikons, auf sich aufmerksam (1684–1748, ab 1707 in Weimar). Bach hatte das Talent des Prinzen mehrfach anerkennend und gutachtend gefördert. Einzelne seiner Kompositionselemente verwendete und verfeinerte Bach in seiner Musik (1.Orgelkonzert). Und schließlich sei auf die späteren klassischen Musikinteressen und -aktivitäten der Herzogin Anna Amalia hingewiesen. Schulische Höhepunkte des Jahres waren der Große Wilhelmstag am 30. Oktober (Geburtstag des Schulgründers Herzog Wilhelm Ernst) und der Kleine Wilhelmstag am 28. Mai (Einweihungstag der Hofkirche – Jakobskirche).

Das Musizieren am Gymnasium leitete bis zu seinem Tode 1726 Stadtkantor Georg Theodor Reineccius, befreundet mit Bach, der vermutlich von ihm Schüler für Kantatenaufführungen erhielt und an der Huldigung für Herzog Wilhelm Ernst zur Einweihung des ersten im schlichten Barock erbauten Schulhauses 1716 am Töpfermarkt, dem heutigen Herderplatz, „hierbei durch eine CANTATA" beteiligt war. Außerdem waren Christoph Alt und ab 1715 sein Sohn Wolfgang Alt, beide Mitglieder der Hofkapelle, Musiklehrer an der Schule. Als Neuerung berief Herzog Ernst August einen „Sprach- und Tanzmeister und Mâitre in der Musik". Nachfolger von Reineccius wurde für kurze Zeit „Director Chori Musici" Reinhardt, den 1729 A. F. Labes aus Magdala ablöste. 1733 erfolgte die Einrichtung des Collegiums musicum, das eine große Unterstützung für die Aufgaben des Chores darstellte. Es brachte eine gezielte Unterweisung in der Instrumentalmusik und wurde geleitet von den fürstlichen Kammermusikern Christoph Eylenstein und Michael Weigmannen. Kantor Brunner und Johann Christian Walther, Sohn des verstorbenen Stadtkantors, sowie Chr. Friedrich Könitzer, 1. Oboist im fürstlichen „Garde-Chor", folgten ihnen im Amt. Viele Schüler der oberen Klassen besuchten regelmäßig die Hofkonzerte. Unter ihnen taucht auch der Name Hufeland auf. 1773 bereits bekamen einige Gymnasiasten die Erlaubnis, „dem Weimarer Stadtmusikus Alexander Eberwein, Vater von Carl und Maximilian, bei allhier vorkommenden Hochzeiten oder bei sonst angestellten Vergnügen einiger Honoratioren . . . assistieren zu dürfen". Hingegen wurden die Nachtständchen bei besonders beliebten Lehrern abgeschafft, weil sie die „Schulzucht nicht beförderten". Schon zu dieser Zeit wechselten Lob und Tadel. 1771 wurde Kritik darüber geführt, dass einige Chorschüler „ohne Mäntel" (Chorkleidung) zum Singen in der Kirche erschienen und der Chor „unsauber, schlecht und geschwinde" sänge.

1788 bis zu seinem Tode 1802 wirkte Stadtkantor Johannes Matthäus Rempt als Chordirektor an der Schule. Gearbeitet wurde mit dem von ihm verfassten „Vierstimmigen Choralbuch", auf dessen Herausgabe Herder besonderen Einfluss genommen hatte. Dessen Auseinandersetzungen mit Goethe über die engere Anbindung der Schule an das Hoftheater beeinträchtigten das Schulmusikgeschehen erheblich. Gegen den Willen Herders befürwortete Goethe die Anstellung des Hofkonzertmeisters Francois von Destouches, einen Schüler Haydns, der bis 1810 Dienst tat, 1804 durch eine zweimalige Aufführung von Haydns „Schöpfung" und auch darüber hinaus mehr durch Aufführungen mit Schülern im Hoftheater hervortrat, ohne dass dies merklich auf das schulische Musikleben ausgestrahlt hätte. Die von Herder beabsichtigte Volkslied orientierte Reformierung der Kirchen- und Schulmusik konnte so nicht verwirklicht werden. Andererseits war die Hilfe der Schule für das Theater fast eine Notwendigkeit, denn einen eigenen Chor besaß das Theater zu dieser Zeit noch nicht.

1810 bis 1914

Carl Eberwein, Hummel, Töpfer und die Ära Müllerhartung

                                                                               

1810 kam August Eberhard Müller, Destouches Nachfolger, als „Musikdirektor der Stadtkirche und des Gymnasiums" mit den Erfahrungen eines Thomaskantors aus Leipzig an die Schule. Neben ihm leistete Stadtkantor Christoph Wilhelm Kästner eine fleißige Arbeit, ohne danach Müllers Amt zu erhalten.

1816 fand die Feier zum hundertjährigen Bestehen der Schule statt. Unter Kapellmeister Müller erklang mit der Großherzoglichen Kapelle das „Halleluja" von Händel. Schüler der drei oberen Klassen sangen danach ein für das Jubelfest gedichtetes Lied nach der Melodie „God save the King". Für den 1817 verstorbenen  Müller wurde 1818 Hofmusiker Carl Eberwein zum Musikdirektor von Schule und Kirche berufen. Er war Leiter von Goethes Hauskapelle und gewann Bedeutung als Komponist durch die Vertonung von Goethe-Gedichten und eine Faustmusik. Kantor Anton Hißbach wurde auf Empfehlung von Johann Nepomuk Hummel zur Unterstützung von Carl Eberwein als Chorleiter angestellt. Hummel setzte sich sehr für die Erhaltung des Collegiums musicum ein. Dieses und das von Herder 1780 erstmals vorgeschlagene und seit 1788 an die Schule angeschlossene Lehrerseminar spielten im Weimarer Musikleben des 18./19. Jhs. eine wichtige Rolle. Mitglieder des Collegiums wirkten in Konzerten der bürgerlichen Vereine und des Theaters mit, u. a. bei einer Aufführung von Haydns „Jahreszeiten" 1842. Bürgerliche und höfische Hausmusik (siehe Goethes Hauskapelle!) waren zu dieser Zeit in Weimar weit verbreitet. Sicher hat die Arbeit des Collegiums darauf ausgestrahlt bzw. eine Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Musizierformen bestanden. Der seit 1798 tätige Johann Adam Zipfel, Lehrer für Instrumentalmusik, betreute das Collegium musicum (Hauptinstrumente: Violine, Cello, Bass, Klarinette, Horn, Flöte. 1828 löste ihn Stadt- und Hofmusicus August Wilhelm Agthe bis 1853 ab.

Wichtige Impulse erhielt das schulische Musikleben Anfang des 19. Jh. durch den aus Bad Berka stammenden Heinrich Christian Remde. Er gründete eine „Singakademie für die Jugend", in deren vorausschauende Arbeit er musikinteressierte Jungen der Schule einbezog. 1816 war der Theaterchor gebildet worden, nachdem die Theaterchorarbeit vorher im Wesentlichen von den Gymnasiasten und Seminaristen geleistet worden war, was eine Leistungsgrenze darstellte, die mit der Entwicklung der Oper nicht Schritt hielt. An Remde knüpfte Theaterchordirektor August Ferdinand Häser an, ab 1829 Nachfolger des zurückgetretenen Musikdirektors Eberwein. Ein bedeutender Musiker lehrte in der Mitte des 19. Jh. am Seminar, der Organist Johann Gottlob Töpfer (1791–1870). Er setzte die durch Bach und Walther begründete Weimarer Organistentradition fort und gilt als bedeutendster Weimarer Schul- und Kirchenmusiker dieser Zeit. Von 1845 bis 1851 war der Violinist (Schüler von Louis Spohr), Kapellmusiker und ab 1826 großherzogliche Musikdirektor am Hoftheater, Joann Nikolaus Conrad Götze (1791–1861) Musiklehrer und Chorleiter am Gymnasium. 1851 wurde der wöchentlich vierstündige obligatorische Gesangsunterricht eingeführt.

1865 begann die fast 40-jährige Amtszeit des wohl berühmtesten Musiklehrers der Schule, des Kapellmeisters, Chorerziehers und Komponisten Carl Müllerhartung, 1872 Gründer der ersten deutschen Orchesterschule (heutige Franz Liszt Hochschule).  Er ging als „Thüringer Kantor" und Komponist des Liedes „Thüringen, holdes Land", der „Thüringenhymne", in die Musikgeschichte ein (geb. 1834 in Bad Sulza, gest. 1908 in Berlin, in Weimar bis 1902). Seine Anstellung  erfolgte durch den Herzog auf Veranlassung von Franz Liszt. Unter Müllerhartungs Leitung fanden ab 1870 alljährlich bedeutende musikalische Schulaufführungen statt, so mit Chorwerken von Joseph Haydn und Mendelssohn-Bartholdy. Franz Liszt hat ihnen viel Lob gespendet.

Am 10. Oktober 1887 fand die von Prof. Müllerhartung musikalisch umrahmte festliche Einweihung des Schulhauses in der  Amalienstraße statt. Der Chor führte die für diesen Anlass von Direktor Dr. Weniger und Prof. Müllerhartung gemeinsam verfasste Schulhymne „Soli Deo Gloria" auf. Im neuen Schulhaus gab es regelmäßig musikalisch umrahmte Schulfeiern. Der Unterricht erfolgte wöchentlich nach Chorsängern und Nichtchorsängern getrennt. Anforderungen für die Nichtchorsänger: „Einfache Sing- und Treffübungen, Choräle und Volkslieder, ein- und zweistimmig". Interessant und erwähnenswert ist für diese Zeit die Uraufführung der Märchenoper „HänseI und Gretel" von Engelbert Humperdinck unter der Leitung von Richard Strauss in einer Familienvorstellung des Weimarer Theaters zu Weihnachten 1893 (23.12.). Sicher haben zahlreiche Schüler mit ihren Eltern diese denkwürdige Aufführung erlebt. 1894 bis 1900 und ab 1914 arbeitete Dr. Scheidemantel als erster Gesangslehrer an der Schule.  Am 8.5.1905 wurde in einer musikalisch-literarischen Schulveranstaltung mit Werken von Händel und Schubert des 100. Todestages von Friedrich Schiller gedacht. Vom Dezember des gleichen Jahres ist uns das Programm einer „Musikalischen Aufführung" erhalten.

1914 bis 1964

Zwischen den Weltkriegen und Beginn einer neuen Schulepoche

                                                                                                           

Vor und zwischen den Weltkriegen ist das Gymnasium kein Haus für die Pflege und Förderung progressiven zeitgenössischen Musikgutes. Die Komponisten der Klassik und Romantik bestimmen die Programme.

Um den 1. Weltkrieg findet sich der Hinweis, dass der Gesangunterricht nur zeitweise stattfand. 1919 wurde vom Realgymnasium Apolda der Lehrer Ernst Schmidt als Zeichen-und Gesanglehrer berufen. Unter seiner Leitung fanden 1920 eine Beethovenfeier (150. Geburtstag des Komponisten) und 1921 ein weiteres Konzert statt. Danach gab es unter ihm musikalisch umrahmte Schulfeiern und gelegentlich Konzerte von Schülerchor und Orchester, so 1923 und 1925, jeweils mit Künstlern des Deutschen Nationaltheaters, unter anderem Opernsänger Benno Haberl.

Im Jahresbericht 1926/27 lesen wir: „Das Schülerorchester bestand aus 17 Schülern und 2 Lehrern. Unsere festlichen Veranstaltungen hat das Orchester ebenso wie der Schülerchor  verschönt und am 26. März 1927 in einem Beethovenkonzert (100. Todestag) auch der Öffentlichkeit ihr tüchtiges Können gezeigt. Es wirkten dabei mit der Bassist des Deutschen Nationaltheaters Herr Xaver Mang, die Konzertsängerin Fräulein Christine Rost und unser Abiturient Rolf Dempe, ein trefflicher Klavierspieler." 1930 und 1931 (zur 60. Wiederkehr der Reichsgründung) fanden Schulfeiern mit Chor und Schulorchester und Musik von Händel, Mozart, dazu Volksliedern, unter Leitung von Herrn Kurt Rücker statt. 1933 am 30.10. spielte das Schülerorchester, bestehend aus 25 Mitgliedern, unter Leitung von Musiklehrer Müller-Molnar, 1934 wird von einer erfreulichen Belebung des Musikunterrichts berichtet. Aufführungen des Nationaltheaters, mehrere Konzerte der Hochschule für Musik vertieften den Musikunterricht. Zu Ehren von Carl Müllerhartung wurde am 19. Juni des gleichen Jahres eine Gedenkfeier veranstaltet, die durch Kammersängerin Julie Morath, der Tochter Müllerhartungs, und die Sängerin Vera Meyerolbersleben, der Tochter des Musikdirektors Ernst Meyerolbersleben, (Schüler von Müllerhartung), an Bedeutung gewann. Die Gedenkrede hielt Musiklehrer Müller-Molnar. Orchester und Chor, verstärkt durch einen Lehrerchor, trugen Werke Müllerhartungs vor, u. a. die bekannten Chöre „Soli Deo Gloria" und „Thüringen, holdes Land". Vom Doppeljubiläum „50 Jahre Schulhaus Amalienstraße – 225 Jahre Erhebung der Stadtschule zum Gymnasium" im Jahre 1937 ist uns das vollständige Programm überliefert. Nennenswert sind daraus neben dem Festaktus ein Unterhaltungsabend in der Weimarhalle am 30.10. und eine musikalische Morgenfeier in der Schulaula am 31.10., die ehemalige Schüler mit Werken von Bach und Beethoven gestalteten.

Während des Zweiten Weltkrieges litt die Musikerziehung unter der allgemeinen Schul- und Bildungsnot. Aus dieser Zeit sind wenige musikalische Zeugnisse vorhanden. 1941 im Oktober traten Chor und Orchester auf, im Dezember 1942 wird über eine Neubelebung von Chor und Orchester berichtet. 1943 wurden in einem Konzert Loewe-Balladen von Staatsopernsänger Ernst-Otto Richter vorgetragen, es fanden Hausmusiken mit Werken Bachs und Regers statt, in denen das Schülerorchester und Studierende der Musikhochschule mitwirkten. Die Leitung hatte Musiklehrer Bruno Heusinger, einführende Worte sprach der Hochschuldirektor Ernst Meyerolbersleben. Der Feldpostbrief im Mitteilungsblatt der „Vereinigung früherer Schüler des Wilhelm-Ernst-Gymnasiums" vom Juni 1944 vermeldet: „Im Mai 1944  begeisterten drei anerkannte Künstlerinnen durch Lieder und Klaviermusik aus dem Notenbüchlein der Anna Magdalena Bach . . ." Soweit zu schriftlichen Überlieferungen aus der Zeit vor 1945.

1951 wurde das Schulhaus Amalienstraße als zunächst achtklassige „Goethe-Schule" und damit Grundschule wiedereröffnet (zwischenzeitlich diente es als sowjetische Mittelschule). Alle Schüler hatten nach dem Lehrplan wöchentlich eine Stunde Musikunterricht (damals noch „Singen"), besonders veranlagte Schüler konnten im Chor und später auch in einer Kammermusik- bzw. Blockflötengruppe mitwirken. 

1954 wurde die Goethe-(Ober)Schule Übungsschule der Franz-Liszt-Hochschule für die Ausbildung von Musiklehrern. Namhafte Schulmusiker und Hochschullehrer wie Prof. Albrecht Krauß und Helmut Großmann wirkten hier. An der Hochschule unterrichtete damals noch der Nestor der deutschen Schulmusik, Prof. Richard Münnich das Fach Schulpraktisches Spiel. Mentorin für die Schulmusik-Ausbildung an der Goethe-Schule war Friederun Franke. Unter ihrer Leitung nahm die Chorarbeit einen ersten bedeutenden Aufschwung. Zwischenzeitlich arbeiteten der spätere Pirnaer Kapellmeister Klaus Zoephel, Hildegunde Lipfert, Absolventin der Franz-Liszt-Hochschule, und von 1962 bis 1963 Linde Wetzlar an der Schule. Besonders Linde Wetzlar profilierte den Chor weiter zu einem dreistimmigen a capella-Kinderchor. Außerdem gründete sie eine aus Flöten, Violinen, Cello und Klavier bestehende Kammermusikgruppe, die in den folgenden Jahren eine Stütze der schulmusikalischen und darüber hinausführenden Auftrittsarbeit darstellte. Im Schuljahr 1963/64  übernahm der Autor der Schrift, Absolvent der Franz-Liszt-Hochschule Weimar, die Musikerziehung an der Schule. Es beginnt das „Ameisenzeitalter".  Zwei Vertonungen des James Krüss-Gedichtes „Ameisenkinder", 1964 von Karl Dietrich, 1971 von Manfred Schmitz anlässlich einer Fernsehproduktion in Weimar, sorgten für die zunächst inoffizielle, später offizielle Namensgebung des Chores und einen beispiellosen Erfolgsweg.

 

1964 bis 1990

Das erste „Ameisenzeitalter" - Klassik, Jazz und Ungarn

 

1964 begann die Zusammenarbeit mit dem Jazz-Trio des Komponisten und Pianisten Manfred Schmitz. Er erweiterte Stil und Klangfarbe des Chores mit seinen „Kinderchor-Chansons" und jazznahen Liedarrangements, die für gemeinsame Konzerte, Fernseh- und Unterhaltungsproduktionen entstanden, siehe „Der Herbst steht auf der Leiter". Der Autor schaffte das Jahre später mit seiner Vertonung der Guggenmos-Gedichte „Der Regenbogen" und „Sperling Roderich".

Die Ameisenkinder der inzwischen zehnklassigen Goethe-Oberschule, was hin und wieder ein unterhaltsames Männerchor-Experiment ermöglichte (z.B. mit Goethe-Vertonungen von Maximilian Eberwein), wurden schnell zu einem Chorbegriff weithin. Ihr Name findet sich bei Höhepunkten der Stadt, bei thematischen Veranstaltungen in Schule und Öffentlichkeit, eigenen Konzertproduktionen, er setzt Maßstäbe für eine schulische und darüber hinausgehende Chorarbeit – für manche Chorsänger/innen Anregung zu einer musikalischen Ausbildung oder Beschäftigung mit Musik, Anregung auch für Weimarer Musikerfamilien, den Chor über Jahre mit Konzertbeiträgen und Klavierbegleitungen zu unterstützen.

1979 begann mit dem Weimarer Hochschullehrer Georg Friedrich Händel die fast dreißigjährige Stimmbildungsarbeit (vorher Bernhard Pöhlmann, Weimar/Berlin). Der Chor ersingt sich einen Spitzenplatz unter den Thüringer Kinderchören, er trägt neben dem Musikunterricht fortan die Musik an der Schule. Dauerhafte Verbindungen, zum Teil Kooperationen bestanden zur Musikschule „Ottmar Gerster", Sehschwachenschule „Diesterweg", Franz-Liszt-Hochschule Weimar, zur „Pfeiferstuhl-Musik", dem Blechbläserchor der Halleschen Philharmonie – die mit den Ameisenkindern unter anderem die Bach-Händel-Schütz-Ehrung 1985 spielte – mit den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten (heute Klassik Stiftung), zum Deutschen Nationaltheater.  Es folgten Mitwirkungen in Inszenierungen des Nationaltheaters, wie „Die Verurteilung des Lukullus" von Paul Dessau, „Tosca", „Carmen", „Hänsel und Gretel", die Choreinstudierung der „Schulmeister-Kantate" von Georg Philipp Telemann mit Kammersänger Johannes Prkno vom Deutschen Nationaltheater und dem Orchester der Musikschule „Ottmar Gerster", sowie die Mitwirkung und Übernahme der Titelrolle in einer Opern-Gemeinschaftsproduktion Weimarer Schulen: „Kalif Storch" mit 11 erfolgreichen Aufführungen in der Stadt.

Der Choraustausch mit dem „Mozartchor" der 1. Übungsschule der Pädagogischen Hochschule Szeged in Ungarn zwischen 1967 und 1986 geht mit vielen musikalischen Höhepunkten und einer wertvollen Bereicherung des Repertoires durch Kompositionen und Volksliedbearbeitungen von Zoltan Kodaly, Bela Bartok und Lajos Bardos, sowie altungarisches Liedgut in die schulische Musik- und Chorgeschichte ein. Er zählt mit sechs Konzertreisen durch Ungarn und sechs Gegenbesuchen zu den eher seltenen Ereignissen für einen Schulchor in der DDR. Besonders bewegende Momente waren in Ungarn neben einer Vielzahl von kleineren und größeren Konzertereignissen das  a capella-Singen 1981 und 1985 in der Benediktiner Abteikirche auf der Halbinsel Tihany im Balaton. Im Oktober 1988 folgte die erste Konzertreise zur Ciurlionis-Kunstschule nach Litauen mit drei Konzerten in Vilnius und in der Wasserburg Trakai als Höhepunkten. Im März 1989 gastierte der Universitätschor Vilnius mit einem gefeierten Konzert im Weimarer Saal am Palais. Die die Chorentwicklung fördernden, Vorbild und Ansporn gebenden Auslandspartnerschaften zu den Spitzenchören in Ungarn und Litauen, die Internationalen Chortreffen in Weimar und die langjährige Kooperation mit dem Manfred-Schmitz-Jazztrio eröffneten den Zugang zu ebenso seltener wie  interessanter Chorliteratur, zu vielfältigen Ausdrucks- und Musizierfomen, zum unverkennbaren 'Sound'. „Die Ameisenkinder", Großer Chor und Kammerchor, sangen die klassische und zeitgenössische Chorliteratur in Originalsätzen und Bearbeitungen, zahlreiche Uraufführungen Weimarer und Thüringer Komponisten, DDR-Kinder- und Pionierlieder ebenso wie das „Buchenwaldlied", deutsche Erstaufführungen ausländischer Chorliteratur (französisches, ungarisches, litauisches, russisches Liedgut), sowie 1986 zwei Wiederentdeckungen und erstmalige Aufführungen aus Weimars nachklassischer Zeit, auf die ihrer Bedeutung wegen näher eingegangen werden soll. Zunächst

„Weimar's Volkslied",

komponiert und uraufgeführt im September 1857 zur „Carl-August-Feier" in Weimar anlässlich des 100. Geburtstages von Großherzog Carl August von Sachsen Weimar, Musik von Franz Liszt (original vierstimmiger Männerchor mit Orchester-/Klavierbegleitung ad libitum) nach einem Gedicht von Peter Cornelius. Die Komposition gibt es in mehreren Fassungen, unter anderem als dreistrophiges und als fünfstrophiges Lied, hier mit der Vertonung des vollständigen Gedichts.

In Weimar erstmals wiederaufgeführt wird das Lied 1986 durch die Ameisenkinder anlässlich des Liszt-Jubiläums in einem dreistimmigen Chorsatz unter Verwendung des Klaviersatzes von Franz Liszt. Die Nachdichtung erfolgte in Anlehnung an den Originaltext von Peter Cornelius.

Notendrucke des Liszt-Originals und Gedicht-Sammelband von Peter Cornelius stammen aus der damaligen Zentralbibliothek der deutschen Klassik, der heutigen Herzogin Anna Amalia Bibliothek.

Des Weiteren das Lied

„Schwebender Genius über der Erdkugel"

Die Gedichtstrophen von Johann Wolfgang von Goethe sind entstanden 1826 (erschienen 1831) zu Darstellungen, die Teil eines Zyklus sinnbildlicher Zeichnungen waren, entworfen von einem Schüler der Weimarer Kunstschule 1814 zur Feier der Rückkehr des Großherzogs Carl August aus England. Goethe hat das Gedicht mehrfach handschriftlich verschenkt. Wolfgang Maximilian von Goethe (1820–83), Enkel des Dichters, vertonte zwei Strophen dieses Gedichts seines Großvaters.

In Weimar erstmals wieder aufgeführt wird das Lied 1986 in einer Bearbeitung von Eberhard Neumeyer für Chor mit Klavierbegleitung unter Verwendung des Original-Klaviersatzes von Wolfgang Maximilian von Goethe und der fünf Strophen des Gedichts.

Die Anregung zur Aufführung gab der „Freundeskreis Goethe-Nationalmuseum".

 

Mit 55 Kindern aus den Klassen 5-10 sangen fast 20 Prozent der Schüler dieser Klassen im Chor, mit den 25 Kindern des Vorbereitungschores der Unterstufe über 15 Prozent aller Schüler. Ihn leitete Musiklehrerin Sigrun Fiebig, die gleichzeitig über viele Jahre eine Blockflötengruppe betreute. Sie erteilte auch Musikunterricht in den unteren Klassen. Zu den Erfurter Musiktagen im April 1989 sang der Chor sein letztes Vorwendeprogramm. Ende Oktober 1989 legte Manfred Matthies aus Northeim (Niedersachsen) den historischen Grundstein zur Partnerschaft mit dem Gymnasium Corvinianum Northeim, mit dem ein reger Austausch begann. Ihn betreute von musikalischer Seite der Musiklehrer und Chorleiter des Corvinianums, Heinz Weyhing.

Im Februar 1990 fand die zweite Chorreise der Ameisenkinder nach Litauen statt. Chormitglieder und Begleiter erlebten, was zuhause nur das Fernsehen vermittelte: die Kundgebungen für die Unabhängigkeit Litauens in den Straßen der Hauptstadt Vilnius, die Dankgottesdienste in den übervollen Kirchen, die Kraft der Musik, des Liedes, des gemeinsamen Gesangs der Hunderttausende, die auf dem Platz vor der Kathedrale zusammenkamen - und uns in bewegten Worten für unser Auftreten in Vilnius dankten. Auch das bleibt Teil der Schulmusikgeschichte. Die im Juni 1990 folgenden Konzerte der Ameisenkinder in Northeim und Einbeck waren die Auftakt-Konzerte der ersten gesamtdeutschen Chor- und Schulpartnerschaft in Thüringen und zugleich die Abschiedskonzerte des Autors mit „seinen" Ameisenkindern nach 27 Jahren. Beide Städte boten dem Chor eine überwältigende Bühne und ein phantastisches Publikum. Anfang Juli 1990 übernahm Mathias Rößler Musikunterricht und Chor an der Goethe-Oberschule, die seit 1991 wieder Gymnasium ist. Goethe setzte sich bei der Namensgebung gegen Wilhelm Ernst durch, was einzig und allein mit Goethe zu tun hat und eine Geste gegenüber der Arbeit der Vorgängerschule war. Georg Friedrich Händel blieb der Schule als Stimmbildner ebenso erhalten wie Hochschullehrer Dieter Neumann als Klavierbegleiter - ein nahtloser, unaufgeregter Übergang in aufgeregten Zeiten.

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Bildnachweis 

Bild 1 "Thüringer Allgemeine"
Bild 2 und 3 privat

 

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