Weimar-Lese

Gehe zu Navigation | Seiteninhalt
Weimar-Lese
Der Drachenprinz

Florian Russi:
Der Drachenprinz
Geschichten aus der Mitte Deutschlands

Viele Dinge gibt es in der Mitte Deutschlands, die erklärt und gewürdigt werden müssen. Jeder Baum und Strauch, jeder Fels und Hügel, Flüsse und Teiche, Brücken und Hütten, Pflanzen und Steine, alle haben ihre eigene Geschichte. Wenn man sie reden lässt, hören sie nicht mehr auf zu erzählen.

Die wandelnde Glocke

Die wandelnde Glocke

Johann Wolfgang von Goethe

Hat die Ballade mit Herder zu tun?

Goethes Balladen zeichnen sich - mit Ausnahme des „Erlkönig", den er übernommen hat - durch eine Moral aus. Was ist nun aber mit dem Kind und der Kirchenglocke? War der Dichter der Ansicht, dass Religiosität für die Erziehung von Kindern notwendig sei? Er selbst hat zwar bei seiner Heirat und der Taufe seiner Kinder die sakramentalen Dienste der Kirche in Anspruch genommen. Dies entsprach jedoch den gesellschaftlichen Bedingungen unter denen er lebte. Gläubig im kirchlichen Sinne war er nicht, und religiöse Gebote oder Vorschriften hatten keinen Einfluss auf seine Lebensführung.

Goethe schrieb diese Ballade, die letzte, die er verfasst hat, im Jahr 1813. Rainer Kirsch* meint, dass sie „vom Sichschicken ins Gegebene" handelt, vor dem Wegzulaufen sich nicht lohnt. Vielleicht ist aber auch ein kleiner Seitenhieb auf Johann Gottfried Herder (1744-1803) eingeflossen. Der war in Straßburg Goethes Mentor gewesen und auf dessen Empfehlung 1776 zum Generalsuperintendenten und Ersten Prediger nach Weimar berufen worden. Gerne hätte er von seiner Kirchenkanzel seinem ehemaligen Schüler weiterhin Ratschläge und Lehren erteilt. Doch er wartete vergebens. Goethe hatte sich verselbständigt, und es hätte schon des Einsatzes einer wuchtigen Glocke bedurft, um ihn gewaltsam in die Kirche zu treiben.

Florian Russi

Es war ein Kind, das wollte nie
Zur Kirche sich bequemen,
Und Sonntags fand es stets ein Wie,
Den Weg ins Feld zu nehmen.

Die Mutter sprach: »Die Glocke tönt,
Und so ist dir's befohlen,
Und hast du dich nicht hingewöhnt,
Sie kommt und wird dich holen.«

Das Kind, es denkt: Die Glocke hängt
Da droben auf dem Stuhle.
Schon hat's den Weg ins Feld gelenkt,
Als lief' es aus der Schule.

Die Glocke, Glocke tönt nicht mehr,
Die Mutter hat gefackelt.
Doch welch ein Schrecken! Hinterher
Die Glocke kommt gewackelt.

Sie wackelt schnell, man glaubt es kaum;
Das arme Kind im Schrecken,
Es läuft, es kommt als wie im Traum:
Die Glocke wird es decken.

Doch nimmt es richtig seinen Husch,
Und mit gewandter Schnelle
Eilt es durch Anger, Feld und Busch
Zur Kirche, zur Kapelle.

Und jeden Sonn- und Feiertag
Gedenkt es an den Schaden,
Läßt durch den ersten Glockenschlag,
Nicht in Person sich laden.

*****

Literatur*: Rainer Kirsch, Das wackelnde Über-Ich, in: Johann Wolfgang Goethe, Herrlich wie am ersten Tag, 125 Gedichte und ihre Interpretationen, hrsg. von Marcel Reich-Ranicki, Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2009.

Fotos und Fotobearbeitung: Rita Dadder
Bei der Glocke auf dem Bild im Text handelt es sich um die 1922 gegossene Herderglocke, eine von 3 Glocken der Herderkirche in Weimar. Das Geläut wurde 2009 durch ein neues Glockenensemble ersetzt und befindet sich heute auf dem Gelände des Landguts Holzdorf.

Weitere Beiträge dieser Rubrik

Weihnachten
von Johann Wolfgang von Goethe
MEHR
Wieland - erotisch
von Ursula Krieger
MEHR
Anzeige:
Unsere Website benutzt Cookies. Durch die weitere Nutzung unserer Inhalte stimmen Sie der Verwendung zu. Akzeptieren Weitere Informationen