Verwundert und erstaunt blickt Weimar auf eine aufregende und inspirierende Geschichte zurück. Nicht umsonst wird die beschauliche Kleinstadt an der Ilm auch als die Stadt der Dichter und Denker bezeichnet. Denn nicht nur Goethe und Schiller lebten und wirkten hier mit großen literarischen Taten. Auch Luther, Liszt, Lucas Cranach d.Ä., Wieland und viele weitere Berühmtheiten der schönen Künste erwählten Weimar zu ihrem Wohn- und Lebensort. Hat man sich schon lange gefragt, was es mit der besonderen Anziehungskraft der Stadt auf sich hat, erhält der Fragende mit diesem Gedicht über die Weimarer Sagen vielleicht eine Antwort.
Carolin Eberhardt
In Weimar ist von alter Zeit
Manch seltne Eigentümlichkeit
Zu Hause stets gewesen;
Beweise bringt dafür genug
Manch altehrwürdig Sagenbuch,
das ich seither gelesen.
Es läg‘ dort einfach in der Luft
Der Muse süßer Seelenduft
Wie nirgendwo auf Erden;
Und wer dort lang genug verweil‘,
Der könne zu der Menschheit Heil
Ein großer Dichter werden.
Dort sei der Sänger Gnadenort,
So klingt ein alt Prophetenwort
Im sechzehnten Jahrhundert.
Drum hat die ganze Herrlichkeit
Der großen Goethe-Schiller-Zeit
Mich niemals sehr gewundert.
Doch seit man in die Brunnen schaut
Und überall Kanäle baut
In Gas- und Wasserwerken,
ist leider von dem heil’gen Geist,
Wie selbst wohl dieses Lied beweist,
Fast gar nichts mehr zu merken.
Auch in der Ilm ist es vorbei
Mit jener schönen Wassserfei,
Von der die Dichter sangen.
Das Leben in dem seichten Fluß
War auf die Dauer kein Genuß –
Sie ist davon gegangen.
Und nur das graue Klageweib
Mit spukhaft dürrem Spinnenleib,
das nächtlich ward gesehen
Und Kunde gab von nahem Tod,
Von Kriegsgefahr und Feuersnot,
Das konnt‘ nicht untergehen.
Doch nicht, wenn Mitternacht längst schlug,
Wenn ich mich sacht nach Hause trug,
Hört‘ ich ihr Klagen, Weinen,
Nein, morgens immer in der Früh‘,
Wo andere Gespenster nie
Dem Erdensohn erscheinen.
Dann kam, wohl oft im Sonnenschein,
Das graue Weib zu mir herein
In meine stille Kammer,
Riß bei den Haaren mich empor
Und schrie mir schauerlich ins Ohr:
„O Jammer, Jammer, Jammer!“
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Vorschaubild:
Ölgemälde von Hermann Linde: Die Schlossallee in Weimar (1887) via Wikimedia Commons Gemeinfrei.