Über 70 Erzählungen hat Florian Russi geschrieben. Die folgende ist dem Buch „Der Drachenprinz - Geschichten aus der Mitte Deutschlands" entnommen. Hier begegnet uns ein Menschentyp , den wir alle in der ein- oder anderen Form selbst schon kennengelernt haben.
Uta Plisch
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AIs Georg wie fast jeden Sonnabend zu seinem Schrebergarten am Stadtrand von Weimar ging, hatte er unerwartet einen Wegbegleiter. Es war ein Mann, etwa so alt wie er. Georg meinte, ihn schon einmal gesehen zu haben, wusste jedoch nicht wo.
„Sie gehen diesen Weg mindestens einmal die Woche, meistens Samstags", sagte der Mann zu ihm. „Hab' ich Recht?"
„So ist es, antwortete Georg. „Am Ende des Weges befindet sich eine Gartenkolonie. Dort liegt mein Schrebergarten."
„So habe ich mir's gedacht", antwortete der Wegbegleiter. „Was sonst könnte einen Mann Ihres Alters veranlassen, jede Woche immer denselben Weg zu laufen. Schrebergärtner sind Sie also. Dann kann ich mir ein Bild von Ihnen machen."
„Sie finden mich wohl spießig?" fragte Georg.
„Sagen wir kleinbürgerlich", erwiderte der Mann. „Alle Schrebergärtner, die ich kenne, sind sehr ordnungsbewusst, stehen jeden Tag zur selben Zeit auf, essen am liebsten zu Hause und nur die gewohnten Gerichte. Sie gönnen sich am Abend eine Flasche Bier, in ihrem Garten auch ein paar mehr, lesen den Lokalteil der Zeitung und interessieren sich sonst nur für das tägliche Einerlei. - Lassen sie mich raten: Sicherlich züchten Sie auch Kaninchen'„
„Das habe ich getan, solange es mir gesundheitlich noch besser ging, antwortete Georg. „Jetzt füttere ich nur noch im Winter, wenn Frost ist, die Vögel. Grünfinken, Meisen, Sperlinge, ja auch Dompfaffen kommen dann zu mir in den Garten und betteln um Futter."
„Sie betteln nicht", korrigierte ihn der Mann. „Die Vögel kommen, weil sie gelernt haben, dass sie bei Ihnen Futter vorfinden. Es ist wohl ein erhebendes Gefühl für Sie, von diesen kleinen Kreaturen umschwärmt zu werden. Wenn Sie mit dem Füttern wieder aufhören, wollen sie jedoch nichts mehr von Ihnen wissen. Vögel können keine innere Bindung zu einem Menschen entwickeln. Da machen sich manche etwas Falsches vor. - Sie sagten vorhin, dass es Ihnen früher gesundheitlich besser gegangen sei. Was fehlt Ihnen denn? Für einen Mann ihres Alters - ich schätze, dass wir demselben Jahrgang angehören - sehen Sie ganz normal aus. Die Beschwerden, die das Altern natürlicherweise mit sich bringt, müssen wir hinnehmen. Ich mag keine Leute, die wehleidig sind".
„Ab und zu gehe ich auch in die Oper", sagte Georg, um das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken.
„Was haben sie denn zuletzt gesehen?", fragte der Begleiter, „vielmehr: gehört und gesehen?"
„Hoffmanns Erzählungen", antwortete Georg.
„Das ist ja wohl eher eine Operette", erwiderte der Mann. „Da von einer Oper zu reden, ist recht schmeichelhaft."
„Neulich habe ich mir im Nationaltheater ‚Die Meistersinger‘ angeschaut, beziehungsweise angehört und angesehen", fuhr Georg fort, „eine wirklich gelungene Aufführung."
„Was heißt bei Ihnen ‚gelungen‘? Waren die Stimmen erstklassig besetzt, das Orchester in Hochform oder die Bühnenbilder so eindrucksvoll? Wer waren die Aufführenden, wer hat inszeniert, wie hieß der Dirigent?"
„Das weiß ich nicht mehr", musste Georg eingestehen. „Ich glaube, das Orchester kam aus Dresden."
„Wie wollen Sie Kunst verstehen, wenn Sie nichts über das Werk und seine Interpreten wissen? Darin liegt vielleicht Ihre Kleinbürgerlichkeit. Womit ich nicht sagen will, dass ich diese grundsätzlich ablehne. Was wäre unsere Wirtschaft und Gesellschaft ohne Kleinbürger? Für manche Formen der Arbeit und als Konsumenten sind sie unersetzlich. - Doch sagen Sie mal ehrlich, sind Ihre regelmäßigen Gänge zu ihrem Schrebergarten nicht auch eine Flucht? Nörgelt Ihre Ehefrau ihnen daheim den Kopf voll? Ist Ihr Vorrat an Gemeinsamkeit erschöpft? Langweilen Sie sich mit ihr, haben Sie sich im Bett nichts mehr zu bieten? Es gibt genug Gründe, von zu Hause zu entfliehen.
Könnte es nicht sein, dass unter Ihren Verwandten oder Bekannten jemand Ihre Hilfe braucht? Haben sie Ihrer Tante geschrieben, die schon so lange auf einen Brief von Ihnen wartet? Sind Ihre persönlichen Dinge alle erledigt? Haben sie Ihre Steuererklärung abgegeben? Sicher stehen in Ihrem Regal noch einige Bücher, die Sie geliehen und noch nicht zurückgegeben haben. Ist es nicht so?"
Der Begleiter lächelte herausfordernd und selbstsicher.
„Oft sitze ich in meinem Garten und bearbeite Behörden-, Banken- oder Versicherungsangelegenheiten", erwiderte Georg. Wenn ich mich dort aufhalte, erhole ich mich nicht nur oder kümmere mich um meine Pflanzen."
„Statt Akten oder Formulare tragen Sie heute wie so oft ein Päckchen Nudeln unter dem Arm. Sie sind also Nudelliebhaber. Dazu sollten Sie sich bekennen. Es gibt schlimmere Gewohnheiten oder Laster. Haben wir nicht alle unsere kleinen Verirrungen hinter uns: als Kinder ab und zu heimlich geraucht, in der Badeanstalt durchs Schlüsselloch geschaut, vor dem Einschlafen an uns gespielt, ein paar Münzen unterschlagen, die wir zurückkbekommen hatten, als die Mutter uns zum Einkaufen schickte. War es nicht so oder ähnlich?"
„Ich bin am Ziel, unterbrach ihn Georg. „Hier befindet sich mein Garten."
„Ich komme kurz mit Ihnen", erwiderte der Wegbegleiter. „Sicher finde ich einen Gartenzwerg, einen wasserspeienden Frosch oder wenigstens ein Windrädchen."
Georg schloss das Gatter auf und ließ auch den Mann eintreten. Der eilte sofort auf einen Schamottengel zu. „Sagte ich's doch", triumphierte er.
Georg überprüfte, ob im Gartenhäuschen Stromanlage und Wasserleitung noch funktionierten. Dann griff er nach einem Spaten und spaltete mit einem Schlag seinem Wegbegleiter den Schädel. Die Leiche versenkte er in der Jauchegrube.