Weimar-Lese

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Wunderschöne Ansichten der Klassikerstadt - gezeichnet von Gerhard Klein (3. Aufl. 2010, erschienen im Bertuch Verlag).
Johann Sebastian Bach

Johann Sebastian Bach

Eberhard Neumeyer

Zu Johann Sebastian Bach - in und um Weimar -

Bach-Fundstätte Herzogin Anna Amalia Bibliothek
Bach-Fundstätte Herzogin Anna Amalia Bibliothek

1708 wird Johann Sebastian Bach für neun Jahre Weimars erster „artist of residence". Er kam aus Mühlhausen.

Weimar ist Bachstadt in vielerlei Hinsicht, durch Bachs Schaffen zuerst, seine Nachkommenschaft, die Pflege seines Werkes einst und heute - in Kirche, Gemeinde, in Musikhochschule, Staatskapelle und Kammerorchester, Chören, in Festivals, wie Thüringer Bachwochen, Güldener Herbst, Bach-Biennale, durch Präsenz in Kunstfest und MelosLogos, in Orgelwettbewerben, im Kino, in Vereinen, Initiativen, durch ein großes öffentliches und privates Interesse, durch die Forschung. Hier hat Weimar in letzter Zeit mit den Quellenfunden in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Berühmtheit erlangt. Diese Bibliothek ist ebenso Bachort, wie sie Lisztort ist.

Was viele über Jahre bewirkt haben - Bach hochgehalten auf den Konzert- und Theaterbühnen, auf den Orgelemporen, in den Altarräumen dieser Stadt, tapfer neben dem schier übermächtigen Goethe und seit Mitte des 20. Jhs. über vierzig Jahre gegen die Anderen, die Hermeneutiker von Staatswegen - war wichtig, manchmal mutig. Dafür standen Künstlerpersönlichkeiten wie der Stadtorganist, Kirchenmusikdirektor und Orgelprofessor Johannes Ernst Köhler (1910-1990), der allein mit seinen fulminanten Improvisationen über b-a-c-h Furore machte. Und doch - käme es zum letzten Bedeutungsdisput, würde man vielleicht heute noch sagen: Bach hat Leipzig, Weimar ist Goethe. Dem kommt entgegen, dass Weimar keine oder keine nutzbaren Erinnerungsstätten besitzt. Das historisierende „Bach-Zimmer" im nicht mehr existierenden Parkhotel, dem ehemaligen „Erbprinz" und authentischen Bach-Wohnhausbereich an der Markt-Südseite, hat der Autor noch vor Augen, ebenso die kurze Geschichte der Schlosskirche von 1847 als „Bachsaal" mit dem letzten Konzert 1962. Es war etwas zum Festhalten, bevor sich wenigstens - zur Tafel gegenüber - das Denkmal am Roten Schloss, der heutigen Herzogin Anna Amalia Bibliothek gesellte. Die Zeit vor 1989 hatte es erschwert, die Zeit vor 1945 noch mehr. Da waren Schiller und Goethe für Weimar leichter „einzurichten" als Bach. Die politische Zeitenwende hat den ehrlichen Umgang mit Bach, mit Bachs Kirchlichkeit vor allem erleichtert, den unbehinderten Wettstreit von großer Literatur und Musik im künstlerischen und gesellschaftlichen Kontext der Stadt ermöglicht. Die schönste Erinnerung an Bach, die der Musik, bleibt dieser Stadt in überreichem Masse. Damit erübrigt sich ein Bachhaus nicht!

Schlosskirche, genannt Himmelsburg, Wirkungsstätte Bachs, Gemälde von Christian Richter, um 1660, Klassik Stiftung Weimar
Schlosskirche, genannt Himmelsburg, Wirkungsstätte Bachs, Gemälde von Christian Richter, um 1660, Klassik Stiftung Weimar

Zu Bachs Weggang von Mühlhausen und Dienstbeginn in Weimar 1708 heißt es im „Nekrolog": „Eine im ...1708. Jahre nach Weymar getane Reise, und die daselbst gehabte Gelegenheit, sich vor dem damaligen Herzoge hören zu lassen, machte, dass man ihm die Kammer- und Hoforganistenstelle antrug...Hier hat er auch die meisten seiner Orgelstücke gesetzt."

Es beginnt der zweite, neun Jahre währende Aufenthalt in Weimar. Bereits 1703, vor seiner Berufung nach Arnstadt, hatte es in Weimar ein kurzes Intermezzo des jungen Bach als Kammermusiker, nämlich Geiger und - nach einem Arnstädter Konsistorialprotokoll - „Fürstlich Sächsischer Hoforganist zu Weimar" gegeben.
Der Weimarer Bach ist der längste Thüringer Bach und der nach den Herrschaftsverhältnissen zweitlängste Sächsische Bach (nach Leipzig). In Weimar kamen die beiden berühmten Söhne Wilhelm Friedemann (1710) und Carl Philipp Emanuel (1714) zur Welt. In Weimar entstanden Meisterwerke, Meilensteine der Orgelmusik, Toccaten, unter anderem die d-Moll, Praeludien und Fugen. In Weimar wurde die Kantate formal und durch die Textsprache des Librettisten Salomo Franck weiterentwickelt. Bachs Instrument als Hoforganist in Weimar war eine überarbeitete, „unvergleichlich"1) Ludwig Compenius-Orgel in der Schlosskapelle, der sog. „Himmelsburg". Bachs Instrument als Kammermusikus und ab 1714 Konzertmeister und Vize-Kapellmeister war die Hofkapelle. Ihr wird unter Bach ein knappes Jahrhundert nach einem ersten Höhepunkt unter Johann Hermann Schein 1615/16 ein ansehnliches Niveau bescheinigt. Die Stelle des Hofkapellmeisters allerdings blieb ihm bis zum Weimarer Dienstende versagt, Grund anhaltender Unzufriedenheit und Annäherung an Köthen. Dabei waren die Weimarer Fürsten für ihre musikalischen Interessen und Veranlagungen bekannt, wie uns die klassische Epoche in Gestalt von Herzogin Anna Amalia, ihre Notensammlung, ihre Mozart-Vorlieben und -Aufführungen eindrucksvoll zeigen. Herzog Ernst August spielte Geige und Trompete, ein Unterricht bei Bach wird vermutet, sicher ist er nicht. Ernst August regierte bis zum Tode des Herzogs Wilhelm Ernst 1728 gemeinsam mit diesem (ab 1707, danach bis 1748). Beide Herzöge gaben Erlasse und Verordnungen zur Musikpflege heraus, die Harmonie bei Hofe förderte das allem Anschein nach nicht.

Der junge Prinz Johann Ernst komponierte und machte als Schüler eines anderen Berühmten auf sich aufmerksam: Johann Gottfried Walther, ab 1707 in Weimar, Verfasser des „Musicalischen Lexicon", des ersten Musiklexikons. Bach förderte das Talent des früh verstorbenen Prinzen mehrfach durch Anerkennungen und Gutachten. Er verwendete und verfeinerte Elemente aus dessen Kompositionen z.B. in seinem ersten Orgelkonzert.

1712 verfügte Herzog Wilhelm Ernst die Gründung des „Gymnasium Wilhelmo Ernestinum", dessen erster Bau 1716 am Töpfermarkt, dem heutigen Herderplatz eingeweiht wurde, was einen Aufschwung für die Schulmusik bedeutete, denn wie üblich bestanden enge Verbindungen zwischen Schul- und Kirchenmusik. Gymnasiasten wirkten als Kapellknaben bei Kantatenaufführungen mit, Musiklehrer, teils gleichzeitig Stadtkantoren, waren mit Bach befreundet, so Stadtkantor Georg Theodor Reineccius, der sehr wahrscheinlich unter dem Einfluss Bachs an der „unterthänigsten Devotion"2), der Huldigung für Herzog Wilhelm Ernst zur Einweihung „hierbey durch eine CANTATA"3) beteiligt war, und der das Musizieren am Gymnasium bis 1726 leitete. Das Gymnasium übrigens war ab 1865, beeinflusst durch Franz Liszt, für 40 Jahre Wirkungsstätte des Kapellmeisters, Komponisten und Musikpädagogen Carl Müllerhartung (1834-1908), des Gründers der ersten deutschen Orchesterschule 1872 in Weimar. Unter ihm fanden seit 1870 - ab 1887 im Folgebau des Gymnasiums in der Amalienstrasse, dem heutigen Goethegymnasium - grosse Schulaufführungen statt, weshalb das Gymnasium ein bedeutender schulmusikalischer Ort der Bach-, wie übrigens auch der Haydn- und Lisztpflege im Herzogtum genannt werden darf.

Ein weiteres exemplarisches Beispiel für Bachs Wirkungskreis finden wir in der Nähe von Weimar: Buttelstedt. Der Markt- und Gerichtsplatz nördlich von Weimar an der Via Regia erlangte kirchen- und musikhistorische Bedeutung weit über die heutigen Vorstellungen hinaus. Hier steht die mächtige Stadtpfarrkirche St.Nicolai mit einer Peternell-Orgel. Hier lebte und wirkte die Organistenfamilie Krebs, Vater Johann Tobias (geb.1690), Sohn Johann Ludwig (geb.1713), beide Schüler Bachs, wobei Johann Ludwig an der Thomasschule in Leipzig zu einem seiner Lieblingsschüler avancierte. Johann Tobias bereits wanderte als junger Buttelstedter Kantor ab 1710 zweimal wöchentlich nach Weimar zu Bach und nahm „in der Composition und Clavier-Spielen... Lection..."4). Und hier in Buttelstedt wurde 1688 der Komponist, Schüler an der Thomasschule Leipzig und spätere „Hochfürstliche Anhalt-Zerbstische Capellmeister", Johann Friedrich Fasch geboren, dessen Instrumentalkompositionen Bach beeinflusste und sehr schätzte.

Aus den Bach-Quellenfunden in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek 2005 (und 2006): Aria Alles mit GOTT... Titelseite und Blatt (1)

 

Und was gibt es zu Bach und Goethe zu sagen? Vom gemeinsamen Lebensalter her natürlich nichts. Als letzterer 1749 geboren wurde, hatte ersterer noch ein Jahr zu leben - in Leipzig. Als Goethe 1776 nach Weimar kam, war das Schloss nach dem Brand 1774 eine Ruine, von Bach keine Spur mehr. Goethes erste Berührung mit Bach erfolgte über Zelter, der sich in Berlin der Kirchenmusik und mit der Singakademie dem Werk Bachs annahm. Goethe erwähnte Bach erstmals 1810 in einer Tagebuchnotiz: „Bey Zelter. Musicalisch geschichtliches. Musicalische Epoche unter Marcellus. Sebastian Bach. Händel."

Ein anderer in der Nähe von Weimar weckte Goethes Interesse an Bach unmittelbarer und nachhaltiger: der Badeinspektor und Organist Johann Heinrich Friedrich Schütz in Bad Berka. Häufig spielte er Goethe bei seinen Besuchen auf dem Klavier vor, wovon dieser 1819 in einem Brief an Zelter berichtet: „... muss ich erzählen, dass ich... drei Wochen anhaltend in Berka zubrachte, da mir denn der Inspector (Schütz) täglich drey bis vier Stunden vorspielte und zwar, auf mein Ersuchen, nach historischer Reihe: von Sebastian Bach bis Beethoven, durch Philipp Emanuel (Bach), Händel, Mozart, Haydn...". Und natürlich gab es auch am Frauenplan Hausmusik, unter anderem mit Klavier, Schütz (Friedrich) und Bach.

Apropos Klavier. Bachs Dienstbeginn in Weimar fällt ziemlich genau in die Zeit der Erfindung der Hammermechanik und deren Erprobung durch den italienischen Klavierbaumeister Cristofori 1709 in Florenz. Der Versuch war klanglich noch nicht sehr tauglich, vor allem was die Differenzierungen betraf. Silbermann in Freiberg entwickelte die Technik weiter. Bach kannte den Silbermann-Hammerflügel mit einer Kopie der Cristofori-Mechanik. Zeit und Spielanweisung des Wohltemperierten Klaviers (2.Teil 1744 „für Clavier") schließen das Hammerklavier ein, und festzustellen bleibt: Bachs Anstellung in Weimar ist die Zeit der mechanischen Revolution des Pianofortes, von der zuerst die in Weimar geborenen Söhne profitierten.

Bach-Büste von 1950, aufgestellt 1995 vor dem Südgiebel des Roten Schlosses (Studienzentrum der Herzogin Anna Amalia Bibliothek)
Bach-Büste von 1950, aufgestellt 1995 vor dem Südgiebel des Roten Schlosses (Studienzentrum der Herzogin Anna Amalia Bibliothek)

Und schließlich gab es in Weimar jene zwei Anlässe, die die Musikwelt, die Bachforschung, und Weimar selbst aufhorchen ließen. Sie rückten die Herzogin Anna Amalia Bibliothek in den Mittelpunkt einer wahren Sensation, umso mehr, als die Musikaliensammlung der Bibliothek beim Brand 2004 schweren Schaden genommen hatte. Zunächst fanden Michael Maul und Dr. Peter Wollny vom Leipziger Bach-Archiv 2005 während der Erschliessung von Bach-Dokumenten in den Huldigungsschriften der Bibliothek eine zwölfstrophige Dichtung des Buttstädter Superintendenten Johann Anton Mylius (1657 - 1724) mit dem Titel „Alles mit GOTT und nichts ohn' ihn" - wiederum ein Zeugnis aus der Superintendur Buttstädt, zu der auch das bereits besprochene Buttelstedt gehört. Der Dichtung lag unerwartet die Handschrift einer Vertonung als„Aria Soprano Solo è Ritornello" an, die sich zweifelsfrei als Komposition von Johann Sebastian Bach herausstellte. Ihr Überleben, ihren Glanz für die Bibliothek hat sie dem Umstand zu verdanken, dass sie den Geburtstag des Herzogs Wilhelm Ernst zum Anlass hatte und somit in den Huldigungsschriften und nicht in den Musikalien überdauerte. „Der Mehrwert dokumentiert sich in einem veränderten Katalogeintrag: aus einem »Anonymus« [Komponist] wird »Bach, Johann Sebastian«"5). Welt-Erstaufführungen, CD-Einspielungen unter John Eliot Gardiner, Aufführungen auch in Weimar folgten.

Die gleichen Forscher vom Leipziger Bach-Archiv entdeckten ein Jahr später 2006 die mit Abstand frühesten Handschriften von Johann Sebastian Bach. In einem Sammelband fanden sich Abschriften, die der 13jährige Bach bei seinem Bruder in Ohrdruf angefertigt haben muss, und eine Abschrift Bachs, die um 1700 in Lüneburg entstanden ist. Damit steht fest, dass die Herzogin Anna Amalia Bibliothek die beiden ältesten Bach-Quellen überhaupt besitzt.

Nun, eine Berühmtheit ganz anderer Art erlangte Bach selbst vor seinem Weggang aus Weimar 1717: „6. November ist der bisherige Concert-Meister u. Hof-Organist Bach wegen seiner halsstarrigen Bezeugung von zu erzwingender Dimission, auf der Landrichterstube arretiert u. endlich den 2. Dez. darauf, mit angezeigter ungnädigen Dimission des Arrestes befreyet worden."6)

Der Bach-Meisterschüler Johann Martin Schubart, der die zum neuesten Bach-Fund gehörenden beiden Pachelbel-Chorfantasien vermutlich nach einer Vorlage Bachs abgeschrieben hat, trat nach Bachs Weggang aus Weimar dessen Stelle als Hoforganist an.

Versöhnlich und vergnüglich zugleich stimmte nach unrunden 291 Jahren der 13. Juli 2008. Im Rahmen der Bach-Biennale wurde Johann Sebastian Bach - Zitat - „in Weimar ‚rehabilitiert', seine Entlassung in angezeigter Ungnade aufgehoben; die damals um ihn konkurrierenden Fürstenhäuser in Weimar und Köthen‚ versöhnen' sich wieder. Eine ‚fürstliche Amtswaltung' - stellvertretend vorgenommen von den heutigen Nachkommen der damaligen Weimarer und Köthener Dienstherrn Johann Sebastian Bachs... . Seine Königliche Hoheit Prinz Michael von Sachsen-Weimar-Eisenach sowie Seine Hoheit Prinz Eduard von Anhalt...."

Der Weimarer Musikhimmel von 1717 strahlt wieder ...

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1) „Historische Nachrichten von der berühmten Residenzstadt Weimar"
2) Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Huldigungsschriften D 9
3) ebenda
4) J. G. Walthers „Musicalisches Lexicon"
5) Michael Knoche, Vorwort zur Faksimile-Edition
6) Notiz über Bachs Arretierung und Entlassung am 2. Dezember 1717

Literaturnachweis

Otto Francke

Geschichte des Wilhelm-Ernst-Gymnasiums

Böhlau, Weimar, 1916

 

Hans Rudolf Jung

Johann Sebastian Bach in Weimar

Tradition und Gegenwart

Weimarer Schriften

Heft 16, 1985

 

Janos Hammerschlag/Ferenc Brodszky

Wenn Bach ein Tagebuch geführt hätte

Fünfte Auflage

Corvina Verlag Budapest, 1963

 

Maria Hübner

Goethe und Bach

Berührungspunkte

Katalog

53. Kabinettausstellung im Bach-Archiv Leipzig, 2002

 

Alexander Ferdinand Grychtolik

J. S. Bachs Wohnhaus in Weimar

  

Eberhard Neumeyer

Vom Töpfermarkt zur Amalienstrasse

Beiträge zur Schulgeschichte

Ilmtal Verlag, 1994

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Bildnachweis: Klassik Stiftung Weimar

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