Unter reger Beteiligung von innerhalb und außerhalb der Stadt wurde vor etlichen Jahren in Weimar der Verein der A-Dynamiker gegründet. Auf eine Eintragung ins amtliche Register wurde verzichtet. Das hätte dem Satzungsziel widersprochen, welches dem Verein und seinen Mitgliedern auferlegt, nichts zu tun, was eine gesellschaftliche Außenwirkung haben könnte.
Hanno Oftmann, der Gründer und erste Vorsitzende des Vereins, sagte in seiner Eröffnungsrede, er und seine Freunde seien angetrieben von der Erkenntnis, dass alle nach außen gerichteten Taten nur Leid über die Menschheit gebracht hätten.
»Tatmensch« sei demgemäß für ihn ein Schimpfwort. Als abschreckende Beispiele nannte er Moses, Columbus und Napoleon. »Hunderttausende sind durch Napoleons Kriege ums Leben gekommen. Was aber war das Ergebnis? Nach zwanzig Jahren napoleonischer Herrschaft war Frankreich wieder so klein wie vor Beginn der Kriege. Der Ehrgeiz von Christoph Columbus hatte Völkermord, Syphilis, Sklaverei, bluttropfende Skalps und die Ausrottung der Bisons zur Folge. Moses schließlich hat mit seinem Sendungsbewusstsein Tod und Rivalität über ganze Völkerschaften gebracht. Bis heute wirkt die Verklemmung fort, die seine Gesetze in jugendliche Herzen eingepflanzt haben. Ist es nicht genug, dass es Naturkatastrophen, Krankheiten und Tod gibt? « rief er in den Saal. »Lassen Sie uns verhindern, dass der Tatendurst einzelner dynamischer Menschen zusätzlich Unglück über uns bringt! Daher wollen wir uns im Verein der A-Dynamiker verpflichten, ausschließlich Dinge zu tun, die zur Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse erforderlich sind. «
In der Satzung der A-Dynamiker hieß und heißt es daher: »Der Verein ist wirkungslos tätig. Er verfolgt keine nach außen gerichteten Ziele. « Paragraph 4 enthält die Bestimmung, dass die Mitglieder keine Religion gründen, keinen Krieg beginnen und kein Land entdecken dürfen.
Hanno Oftmann war dem Verein ein Leben lang Vorsitzender und Vorbild. Mitgliederwerbung lehnte er ab. Nur diejenigen sollten den A-Dynamikern beitreten, die auf Grund eigener Erkenntnisse diesen Schritt tun wollten. Oftmann mied Zusammenkünfte mit weniger als zehn Teilnehmern. Zu groß erschien ihm die Gefahr, dass dort Beschlüsse gefasst und von dem ein oder anderen in Taten umgesetzt werden könnten.
Umso mehr schätzte er große Gesellschaften, bei denen viel geredet wurde und es dabei auch blieb. Er fand es traurig genug, einen Verein gründen zu müssen. Doch das war Notwehr gegenüber ungehemmten Tatmenschen.
Er beteiligte sich nicht an Parlamentswahlen, es sei denn, eine besonders aktive Regierung sollte aus dem Amt gewählt werden. Oftmann schätzte es, wenn mächtige Männer ständig ihre Überzeugungen wechselten und deshalb nicht die Zeit fanden, auch nur eine davon in die Tat umzusetzen.
In der von Oftmann gegründeten A-dynamischen Akademie wird darüber geforscht, wie sich die Welt ohne den Ehrgeiz und das Sendungsbewusstsein einzelner Menschen entwickelt hätte. Schreckliche Erkenntnisse wurden da im Laufe der Jahre zusammengetragen. Wer einmal ein Seminar der Akademie besucht hat, wird niemand anderem mehr sein Schicksal anvertrauen.
Eine Vortragsreihe befasst sichmit dem Thema, wie Anwälte durch Prozesse reich wurden und ihre Mandanten gleichzeitig verarmten. Es werden Untersuchen vorgestellt, wie Regierungen an die Macht kamen mit dem Versprechen, für das Wohl der Bürger zu sorgen. Kaum im Amt, bedienten sie sich erst einmal selbst und ließen sich die versprochenen Wohltaten durch zusätzliche Steuern von den Betroffenen bezahlen.
In einem anderen Themenkomplex wird dargestellt, wie große Teile der Bevölkerung dem Aufruf ihrer Regierung gefolgt waren und Kriegsanleihen gezeichnet hatten. Wenig später war nicht nur das Geld, sondern auch der Krieg verloren.
Als vorbildlich gilt dagegen jener dänische Populist, der vorgeschlagen hatte, die Armee seines Landes gänzlich abzuschaffen und durch einen automatischen Anrufbeantworter zu ersetzen, der über Tonband die Erklärung abgeben sollte: »Wir ergeben uns, wir ergeben uns…«
Verdienste hat sich die Akademie darüber hinaus auf dem Gebiet der Betroffenheitsforschung erworben. Auch die von ihr entwickelten Lehrgänge zur Methodik und Didaktik der Selbsterfahrung erfreuen sich wachsender Beliebtheit. Bei dem auf den Vorsitzenden zurückgehenden »Oftmann-Encounter« sitzen die Teilnehmer nackt nebeneinander in einer Runde. Alsdann übergibt der Tagungsleiter an den ersten in der Gruppe ein Fieberthermometer. Der steckt es sich unter die Achsel, zieht es nach sechs Minuten wieder hervor und verkündet die gemessene Temperatur. Dann schüttelt er das Quecksilber wieder auf seine Ausgangsbasis zurück und reicht das Thermometer an seinen Nachbarn weiter. Nachdem der letzte in der Runde seine Temperatur gemessen hat, diskutieren alle gemeinsam die Messergebnisse und die von den Teilnehmern in der Gruppe gewonnenen Erfahrungen.
Für Wirtschaftler wurde das Spiel »Neuer Markt« entwickelt. Dabei sitzen die Teilnehmer beisammen und rufen einer nach dem anderen eine zufällige Zahl in die Runde. Diese Zahlen werden dann von allen ökonomischen, ökologischen und ästhetischen Gesichtspunkten diskutiert.
Das von Hanno Oftmann verfasste Hauptwerk hat den Titel »Spaß statt Panik«. Es befasst sich mit dem Thema Angstbewältigung durch Ulk und Spaß. Die Publikation wurde mehrfach aufgelegt. Auf den Vorhalt, dass im Unglück die Menschen von ihrer Veranlagung her immer in Panik verfielen, soll Oftmann selbstbewusst geantwortet haben: »Insofern passt mein Buch doch wunderbar in unser Programm der Wirkungslosigkeit. «
Nach Oftmanns Tod entbrannt unter seinen Nachfolgern ein Streit um sein geistiges Erbe. Es bildete sich eine Gruppe von Fundamentalisten, die es ablehnten, Kinder zu zeugen und jeden Handlungsdrang als krankhaft bezeichneten. Sie hielten den Menschen für eine Fehlentwicklung der Natur. Ihr wollten sie die Chance geben, es einmal mit den Insekten oder andren Lebewesen als Beherrscher der Welt zu versuchen.
Auch diese Puristen führen Veranstaltungen durch, allerdings ist es ihnen untersagt, dazu Einladungen zu versenden. Man trifft sich zufällig oder auf Grund persönlicher Absprachen. Pünktlichkeit ist verpönt. Sie gilt als die Basis gefahrengeneigter Handlungsabläufe.
In jedem Jahr wird ein fundamentalistischer Kongress geplant, bei dem Themen auf dem Programm stehen wie: »Die Folgen der globalen Klimaerwärmung für die Fronleichnams-Prozession in Klein-Pöcking« oder »Die Verwendung des geschriebenen Wortes als Sprachsymbol bei der nonverbalen Interaktion im postmodernen Kommunikationsprozess«. Die Referenten werden nach dem Klang ihrer Namen ausgesucht. Mit dem Namen Müller hat man wenig Chancen, wer Hebenäcker-Manderich heißt, umso mehr. Zum Einsatz kommt allerdings niemand, da der Kongress regelmäßig wieder abgesagt wird.
Mehrere Monate im Jahr verbringt der Vorstand der Fundamentalisten damit, sich einschlägige Begründungen für Absagen einfallen zu lassen. In den vergangenen Jahren wurden folgende Erklärungen gewählt:
Wenn sich Fundamentalisten in größerer Zahl treffen, lieben sie es, Winkmeisterschaften durchzuführen. Es gewinnt derjenige, der als erster mit dem Winken aufhört. Als Sieger erhält er das Recht, die Veranstaltung als erster zu verlassen.
Klammheimlich haben viele A-Dynamiker den Marsch durch die Institutionen angetreten. Sie lassen sich gelgegentlich an Aussagen erkennen wie: »der Brief ist schon unterwegs, die Sache liegt zur Unterschrift, ich habe die Angelegenheit an mich gezogen, wir müssen die gesetzlichen Regeln einhalten, wir werden das Konzept eins zu eins umsetzen, es muss dringend etwas getan werden, ich habe schon vor zwei Jahren darauf hingewiesen.«
Manche tarnen sich geschickt. Anstatt völlig untätig zu sein, setzen sie Gesetzesvorhaben durch Überregulierungen außer Kraft. Selbst für unwichtige Angelegenheiten finden sie so viele Vorschriften und Paragraphen, dass vor lauter Lesen niemand dazu kommt, sie auch anzuwenden.
Es hat nicht an Bestrebungen gefehlt, die A-Dynamiker zu verbieten. Inzwischen zählt der Verein jedoch Mitglieder und Anhänger in der ganzen Welt. Nicht selten findet man sie in öffentlichen Diensten. Bei vielen steht das Foto des Vereinsgründers Hanno Oftmann auf dem Schreibtisch. Vereintes Untätigsein macht uns stark, denken sie und fühlen sich durch unbelehrbare Täter jeden Tag aufs Neue herausgefordert.
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Bildquellen:
Vorschaubild: Bilderrahmen von Werner Weisser, Gemälde von Andreas Werner
Textquellen:
Verein Wirkungslos entnommen aus: Russi, Florian: Der Drachenprinz, Weimar: Bertuch Verlag, 2004, S. 181-183.