In dieser Sage werden, wie in der literarischen Gattung üblich, historische mit übernatürlichen Ereignissen vermischt und gekonnt um die tatsächlich stattgefundenen Kriege vor Weimars Toren konstruiert. Der Transport von zufälligen Ereignissen auf die derzeitige Situation, regte zum Weben fantastischer Geschichten an: Auf der einen Seite befand sich Weimar immer, wenn das Glöckchen klang, in unmittelbarer Gefahr. Hinzu kommt der Knabe, der den Prinzen vor dem drohenden Unheil warnte. Es sind rein subjektive Wahrnehmungen der Phänomene, die durch den Wissensstand und den herrschenden (Aber-)Glauben auf reale Ereignisse übertragen werden. So waren Glocken und Engel beispielsweise nicht ohne einander zu denken: Beim Schlag der Glocke erschien dem Prinzen ein Knabe in weißem Gewand, der ihn vor der drohenden Gefahr warnte. Heute würden wir wahrscheinlich alles mit meteorologischen Naturerscheinungen begründen und den Knaben als Traumerscheinung enthüllen. Doch als der Glaube an gottgesandte Engel noch viel tiefer im Bewusstsein der Menschen verankert war, erhoffte man sich eher ein himmlisches Zeichen, denn eine Erklärung durch die Natur. Und durch die Kombination der Begebenheiten wurden Kreativität und Fantasie des Volkes angeregt und somit entstand wohl folgende Sage vom „Schwedenglöckchen":
Anette Huber-Kemmesies
Zu Weimar auf dem Stadtkirchturm hängt ein altes, später aber umgegossenes Glöckchen, das hat zu zweien Malen in der Nacht um zwei Uhr plötzlich von selbst Sturm zu läuten begonnen, und das geschah das erstemal im spanischen Kriege, da der Alba in Thüringen hauste, und da hatten die Spaniolen einen Anschlag gemacht, die Stadt Weimar zu überfallen; da sie aber die Wächterglocke hörten, so die Bürgerschaft ins Gewehr brachte, brachen sie wieder auf und zogen von dannen. Zum zweiten Male geschah es im Dreißigjährigen Kriege, als die Schweden unversehens der Stadt zur Nachtzeit sich näherten und auf dem Acker hinter der alten Burg, den man noch die Schwedenschanze nennt, andere sagen, am Ettersberge, Lager schlugen. Da trat zu dem jungen Herzogssohn Johann Ernst ein kleines weißgekleidetes Knäblein, rief den Prinzen wach und sagte ihm, es sei große Gefahr vorhanden, er solle es seinem Vater ansagen. Zugleich schlug hell vom Turme das Glöcklein an; da wurden die Bürger wach und rüsteten sich zu guter Hut und Abwehr, denn die Schweden waren auch in Freundes Landen ein wüstes verderbliches Kriegsvolk und hätten Weimar nicht geschont, obgleich die heldenmütigen Brüder Wilhelm und Bernhard, Herzoge zu Sachsen-Weimar, mit dem Schwedenkönige Gustav Adolf im Bündnis, ja dessen berühmte Feldherren waren. Zum Angedenken jenes Läutens, das von einem Engel geschehen sein soll, wurde hernach, wohl zwei Jahrhunderte lang, in jeder Nacht um zwei Uhr das Schwedenglöckchen eine Weile geläutet, nunmehr aber ist solches Läuten abgestellt worden, wie so mancher andere alte Brauch, vornehmlich aber an vielen Orten die dankbare Erinnerung.
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Sage aus: Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch, Wig and Leipzig 1853