Ich erinnere mich eines Falles aus den ersten Jahren meines Hierseins, wo ich sehr bald wieder in leidenschaftliche Zustände [die Bindung an Frau v. Stein] geraten war. Ich hatte eine größere Reise gemacht und war schon seit einigen Tagen zurückgekehrt, aber durch Hofverhältnisse, die mich spät bis in die Nacht hielten, immer behindert gewesen, die Geliebte zu besuchen. Auch hatte unsere Neigung bereits die Aufmerksamkeit der Leute auf sich gezogen, und ich trug daher Scheu, am offenen Tage hinzugehen, um das Gerede nicht zu vergrößern. Am vierten oder fünften Abend aber konnte ich es nicht länger aushalten, und ich war auf dem Wege zu ihr und stand vor ihrem Hause, ehe ich es dachte.
Ich ging leise die Treppe hinauf und war im Begriff, in ihr Zimmer zu treten, als ich an verschiedenen Stimmen hörte, daß sie nicht alleine war. Ich ging unbemerkt wieder hinab und war schnell wieder in den dunkelen Straßen, die damals noch keine Beleuchtung hatten. Unmutig und leidenschaftlich durchstreifte ich die Stadt in allen Richtungen wohl eine Stunde lang und immer einmal wieder vor ihrem Hause vorbei, voll sehnsüchtiger Gedanken. Ich war endlich auf dem Punkt, wieder in mein einsames Zimmer zurückzukehren, als ich noch einmal an ihrem Hause vorbeiging und bemerkte, daß sie kein Licht mehr hatte.
Sie wird ausgegangen sein! sagte ich mir, aber wohin in dieser Dunkelheit der Nacht? und wo soll ich ihr begegnen? Ich ging abermals durch mehrere Straßen, es begegneten mir viele Menschen, und ich war oft getäuscht, indem ich ihre Gestalt und ihre Größe zu sehen glaubte, aber bei näherem Hinzukommen immer fand, daß sie es nicht war.
Indessen war ich an der Esplanade hinunter gegangen und bis an das kleine Haus gekommen, das in späteren Jahren Schiller bewohnte, als es mich anwandelte umzukehren und zurück nach dem Palais und von dort eine kleine Straße rechts zu gehen. Ich hatte kaum hundert Schritte in dieser Richtung getan, als ich eine weibliche Gestalt mir entgegenkommen sah, die der ersehnten vollkommen gleich war. Die Straße war nur von dem schwachen Licht ein wenig dämmerig, das hin und wieder durch ein Fenster drang, und da mich diesen Abend eine scheinbare Ähnlichkeit schon oft getäuscht hatte, so fühlte ich nicht den Mut, sie aufs Ungewisse anzureden. Wir gingen dicht aneinander vorbei, so daß unsere Arme sich berührten; ich stand still und blickte mich um, sie auch. ? sagte sie. Und ich erkannte ihre liebe Stimme.
Endlich! sagte ich und war beglückt bis zu Tränen. Unsere Hände ergriffen sich. Nun! sagte ich, meine Hoffnung hat mich nicht betrogen. Mit dem größten Verlangen habe ich Sie gesucht, mein Gefühl sagte mir, daß ich Sie finden würde, und nun bin ich glücklich und danke Gott, daß es wahr geworden. , sagte sie, warum sind Sie nicht gekommen? Ich erfuhr heute zufällig, daß Sie schon seit drei Tagen zurück, und habe den ganzen Nachmittag geweint, weil ich dachte, Sie hätten mich vergessen.
Dann vor einer Stunde ergriff mich ein Verlangen und eine Unruhe nach Ihnen, ich kann es nicht sagen. Es waren ein paar Freundinnen bei mir, deren Besuch mir eine Ewigkeit dauerte. Endlich als sie fort waren, griff ich nach meinem Hut und Mäntelchen, es trieb mich in die Luft zu gehen, in die Dunkelheit hinaus, ich wußte nicht wohin. - Indem sie so aus treuem Herzen sprach, hielten wir unsere Hände noch immer gefaßt und drückten uns und gaben uns zu verstehen, daß die Abwesenheit unsere Liebe nicht erkaltet.
Ich begleitete sie bis vor die Tür, bis in ihr Haus. Sie ging auf der finstern Treppe mir voran, wobei sie meine Hand hielt und mich ihr gewissermaßen nachzog. Mein Glück war unbeschreiblich...
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Quelle:
Johann Peter Eckermann Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Titelbild:
Bild "Goethe - Eckermann". Bearbeitung und Montage by Rita Dadder
Charlotte von Stein: Karl Freiherr von Imhoff, gemeinfrei
Schillers Wohnhaus: Gerhard Klein: "Weimar-Skizzen", 2. Auflage, Bertuch Verlag, Weimar 2006