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Florian Russi

Im Zeichen der Trauer

Tröstungen für Hinterbliebene, 2006, 64 Seiten
Feinfühlig und doch nüchtern und realitätsnah dargestellt, sollen die Texte Tränen trocknen und Mut zusprechen

Wie Naftali Fürst Buchenwald erlebte

Wie Naftali Fürst Buchenwald erlebte

Volker Schmidt

Ein weiteres Buchenwaldkind 14026


Die Fahrt hatte ein Ende. Tage ohne Nahrung, ohne Dach über dem Kopf lagen hinter uns. Wo ich mich befand, wusste ich nicht. Allerdings waren wir positiv überrascht. Irgendetwas schien hier anders zu sein. Lag es am hellen Licht in der überdachten Halle, war es der Ton der Aufseher und alteingesessenen Häftlingen? Irgendetwas irritierte Shmuel und mich. Doch die alte Angst vor dem Entkleiden kam in mir hoch, als wir dazu aufgefordert wurden. Ging es hier zum gefürchteten „Duschen"? Denn dass unser Leben nichts galt, wussten wir spätestens seit der Fahrt von Breslau nach Buchenwald. Ein Menschenleben galt nichts. Umso überraschter nahmen wir wahr, dass die anderen Häftlingen uns neue Kleidung gaben. Shmuel und ich wurden registriert. Der dreizehnjährige Shmuel und ich, der Elfjährige, galten nun mit dem rot - gelben Stern als politisch, jüdische Gefangene.
Naftali Fürst in der Häftlingsbaracke. (Rote Kennzeichnung)
Naftali Fürst in der Häftlingsbaracke. (Rote Kennzeichnung)
Man wies uns in eine große, hölzerne Baracke ein. Ein Sprachengewirr aus aller Herren Länder umgab uns. Die Evakuierung von Auschwitz zeigte bei uns Spuren. Shmuels Zehen waren erfroren, ich war entkräftet, ausgezehrt und krank. Nur klein waren unsere Essensportionen und die Häftlinge bestahlen einander aus Selbsterhaltungstrieb. Weiter gingen die Deportationen, denn Buchenwald, wie das Konzentrationslager hieß, mein viertes, das ich kennen lernen musste, war überfüllt. Die Lager im Reich waren zum Bersten voll mit Gefangenen aus Lagern im Osten, die der „Russe" schon eingenommen bzw. befreit hatte. So rollten die Menschentransporte beinahe ziellos im Frühling 1945 durchs Reich und keiner wollte die Häftlinge haben. Doch das begriff ich erst später. So jung wie Shmuel und ich auch waren, den Rat unseres Vaters Artur beherzigten wir. „Bleibt zusammen, versucht, nicht getrennt zu werden.". Fast schon getrennt, gelingt es uns durch eine List zusammen zu bleiben. Dazu muss Shmuel eine neue Identität annehmen.

Ich kam in eine Kinderbaracke, Block 66 und wurde von meinem Bruder das erste Mal während unserer Zeit im Konzentrationslager getrennt. Beide waren wir darüber verzweifelt, denn was hatten wir noch, nur noch uns. Shmuel aber gelang es aus seinem Block 49 zu mir in den Kinderblock des Kleinen Lagers überstellt zu werden. Wie schwierig das war, berichtete er mir später. Hier, unter 900 anderen Kindern aus Polen, Ungarn, Frankreich und anderen mehr, lebten wir auf engstem Raum. Aber irgendetwas war anders! Uns Kindern ging es hier besser als allen anderen Häftlingen des Lagers Buchenwald. Die Wärter achteten darauf, dass das Essen gerechter unter den Kindern verteilt wurde. Man stelle sich vor, Waschen, Haare schneiden, Hygiene waren organisiert. Was hatten wir diesbezüglich im Kinderblock unter Olegs Regime in Auschwitz erlebt! Erwachsene Mitgefangene erklärten uns die politische Lage, appellierten an unsere Moral, sangen mit uns! Hier in Buchenwald waren wir nicht nur Nummern zum Erreichen der Totenquote. Die täglichen Zählappelle fanden in der Baracke statt. Wer jemals den Wind, der über Buchenwald weht, erlebt hat, wird dieses Privileg für uns Kinder zu würdigen wissen.

Trotz dieser Erleichterungen stieg mein Fieber, wurde meine Brust von einem hartnäckigen Husten gequält. Nicht überraschend hatte sich eine Lungenentzündung bei mir entwickelt. So brachte man mich in den Krankenbau. Shmuel blieb zurück im Kinderblock. Einmal noch sahen wir uns im Krankenbau und ich konnte ihm ein Brot zustecken. Dann wurde er auf Transport geschickt. Unsere Wege trennten sich schließlich im Februar 1945.

Blick auf das Krematorium
Blick auf das Krematorium
Meine Krankheit glich einem physischen und psychischen Zusammenbruch, nur undeutlich sind meine Erinnerungen an die Tage im Krankenbau von Buchenwald. Einige Tage später wurden wenige Schwerkranke, die auf keinen Fall transportfähig waren, ins Lagerbordell gebracht.

Ich war unter diesen Auserwählten voller gemischter Gefühle. Welche Pervertiertheit erwartete mich nun - medizinische Experimente? Was sollte ein elfjähriger Knabe davon halten, ins Bordell gebracht zu werden? Aber wider Erwarten legte man uns auf Matratzen, wurden von „echten" Ärzten behandelt und wurde uns wunderbares Essen zuteil. Die Frauen des Bordells, sechzehn weibliche Häftlinge aus dem Frauenkonzentrationslager Ravensbrück betreuen auch mich. Ich erfahre Trost und Herzlichkeit von ihnen und Näheres über die Funktion eines Bordells. Aber was kann mich noch erschüttern, verglichen mit dem, was ich in den letzten zwei Jahren erleben musste.

Schokolade und Kuchen, Dinge aus einem früheren Leben, finden ihren Weg zu mir. Unter meinem Kissen horte ich sie, Teile davon für meinen Bruder Shmuel.

Dass etwas Besonderes in der Luft lag, begriff ich als die Prostituierten packten, Deutsche nicht mehr kamen. Welche surrealistische Situation als zwölfjähriger, Erfahrungen gesammelt in vier verschiedenen Konzentrationslagern, werde ich, einen Todesmarsch überstanden, im Freudenhaus von Buchenwald von amerikanischen Soldaten am 11. April 1945 befreit und suche meinen großen Bruder Shmuel, kann ihn aber nicht finden.

Noch weitere 14 Tage muss ich in Buchenwald bleiben, bevor wir Tschechien und Slowaken auf LKWs in die Tschechoslowakei gefahren werden. Bei meiner Ankunft in Bratislava heißen mich Mitglieder der jüdischen Gemeinde willkommen.

Auf dem jüdischen Friedhof in Siegburg am 30.04.2008, v.l.n.r: Joachim Schmidt, Frau Wiesner (Joachim Wiesners Ehefrau), Volker Schmidt, Tova Wagman (Naftalis Lebensgefährtin), Naftali Fürst, Ronit Fürst (Naftalis Tochter), Cornelia Schmidt
Auf dem jüdischen Friedhof in Siegburg am 30.04.2008, v.l.n.r: Joachim Schmidt, Frau Wiesner (Joachim Wiesners Ehefrau), Volker Schmidt, Tova Wagman (Naftalis Lebensgefährtin), Naftali Fürst, Ronit Fürst (Naftalis Tochter), Cornelia Schmidt

In Buchenwald war es anders als in anderen Lagern, heute mit 75 Jahren kenne ich die Ursachen dafür. Dort gab es eine gut funktionierende Untergrundbewegung der Häftlinge. Sie war Teil der Lager - und Häftlingsorganisation und ohne sie lief nichts im Lager.

Die Deutschen waren gezwungen, wollten sie einen reibungslosen Lageralltag vorfinden, mit der Häftlingsorganisation zusammen zu arbeiten. Dazu waren sie zu Zugeständnissen bereit.

So gestatteten sie unter anderem die Einrichtung eines Kinderblocks in Buchenwald. Dort untergebrachte Kinder wurden vor schwerer Zwangsarbeit bewahrt. Das „Andere", was Shmuel und ich in Buchenwald empfanden, war Solidarität, Menschlichkeit, Nächstenliebe den Kindern, den Schwächsten des Lagers, uns gegenüber.

 

 

Ein Bericht auf Grundlage Naftalis Gespräch mit Volker Schmidt am 30.04.2008 in Siegburg und seines Buches „Wie Kohlestücke In Den Flammen Des Schreckens"

*****

Bildquellen:
Naftali Fürst am 30.004.2008 auf dem jüdischen Friedhof in Siegburg, Foto von Volker Schmidt

Gefangene im KZ Buchenwald, 1945, USA, Gemeinfrei

Blick auf das Krematorium, Theresa Steigleder

Auf dem jüdischen Friedhof in Siegburg am 30.04.2008, v.l.n.r: Joachim Schmidt, Frau Wiesner (Joachim Wiesners Ehefrau), Volker Schmidt, Tova Wagman (Naftalis Lebensgefährtin), Naftali Fürst, Ronit Fürst (Naftalis Tochter), Cornelia Schmidt. Foto: Volker Schmidt

 

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