Ich kam in eine Kinderbaracke, Block 66 und wurde von meinem Bruder das erste Mal während unserer Zeit im Konzentrationslager getrennt. Beide waren wir darüber verzweifelt, denn was hatten wir noch, nur noch uns. Shmuel aber gelang es aus seinem Block 49 zu mir in den Kinderblock des Kleinen Lagers überstellt zu werden. Wie schwierig das war, berichtete er mir später. Hier, unter 900 anderen Kindern aus Polen, Ungarn, Frankreich und anderen mehr, lebten wir auf engstem Raum. Aber irgendetwas war anders! Uns Kindern ging es hier besser als allen anderen Häftlingen des Lagers Buchenwald. Die Wärter achteten darauf, dass das Essen gerechter unter den Kindern verteilt wurde. Man stelle sich vor, Waschen, Haare schneiden, Hygiene waren organisiert. Was hatten wir diesbezüglich im Kinderblock unter Olegs Regime in Auschwitz erlebt! Erwachsene Mitgefangene erklärten uns die politische Lage, appellierten an unsere Moral, sangen mit uns! Hier in Buchenwald waren wir nicht nur Nummern zum Erreichen der Totenquote. Die täglichen Zählappelle fanden in der Baracke statt. Wer jemals den Wind, der über Buchenwald weht, erlebt hat, wird dieses Privileg für uns Kinder zu würdigen wissen.
Trotz dieser Erleichterungen stieg mein Fieber, wurde meine Brust von einem hartnäckigen Husten gequält. Nicht überraschend hatte sich eine Lungenentzündung bei mir entwickelt. So brachte man mich in den Krankenbau. Shmuel blieb zurück im Kinderblock. Einmal noch sahen wir uns im Krankenbau und ich konnte ihm ein Brot zustecken. Dann wurde er auf Transport geschickt. Unsere Wege trennten sich schließlich im Februar 1945.
Ich war unter diesen Auserwählten voller gemischter Gefühle. Welche Pervertiertheit erwartete mich nun - medizinische Experimente? Was sollte ein elfjähriger Knabe davon halten, ins Bordell gebracht zu werden? Aber wider Erwarten legte man uns auf Matratzen, wurden von „echten" Ärzten behandelt und wurde uns wunderbares Essen zuteil. Die Frauen des Bordells, sechzehn weibliche Häftlinge aus dem Frauenkonzentrationslager Ravensbrück betreuen auch mich. Ich erfahre Trost und Herzlichkeit von ihnen und Näheres über die Funktion eines Bordells. Aber was kann mich noch erschüttern, verglichen mit dem, was ich in den letzten zwei Jahren erleben musste.
Schokolade und Kuchen, Dinge aus einem früheren Leben, finden ihren Weg zu mir. Unter meinem Kissen horte ich sie, Teile davon für meinen Bruder Shmuel.
Dass etwas Besonderes in der Luft lag, begriff ich als die Prostituierten packten, Deutsche nicht mehr kamen. Welche surrealistische Situation als zwölfjähriger, Erfahrungen gesammelt in vier verschiedenen Konzentrationslagern, werde ich, einen Todesmarsch überstanden, im Freudenhaus von Buchenwald von amerikanischen Soldaten am 11. April 1945 befreit und suche meinen großen Bruder Shmuel, kann ihn aber nicht finden.
Noch weitere 14 Tage muss ich in Buchenwald bleiben, bevor wir Tschechien und Slowaken auf LKWs in die Tschechoslowakei gefahren werden. Bei meiner Ankunft in Bratislava heißen mich Mitglieder der jüdischen Gemeinde willkommen.
In Buchenwald war es anders als in anderen Lagern, heute mit 75 Jahren kenne ich die Ursachen dafür. Dort gab es eine gut funktionierende Untergrundbewegung der Häftlinge. Sie war Teil der Lager - und Häftlingsorganisation und ohne sie lief nichts im Lager.
Die Deutschen waren gezwungen, wollten sie einen reibungslosen Lageralltag vorfinden, mit der Häftlingsorganisation zusammen zu arbeiten. Dazu waren sie zu Zugeständnissen bereit.
So gestatteten sie unter anderem die Einrichtung eines Kinderblocks in Buchenwald. Dort untergebrachte Kinder wurden vor schwerer Zwangsarbeit bewahrt. Das „Andere", was Shmuel und ich in Buchenwald empfanden, war Solidarität, Menschlichkeit, Nächstenliebe den Kindern, den Schwächsten des Lagers, uns gegenüber.
Ein Bericht auf Grundlage Naftalis Gespräch mit Volker Schmidt am 30.04.2008 in Siegburg und seines Buches „Wie Kohlestücke In Den Flammen Des Schreckens"
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Bildquellen:
Naftali Fürst am 30.004.2008 auf dem jüdischen Friedhof in Siegburg, Foto von Volker Schmidt
Gefangene im KZ Buchenwald, 1945, USA, Gemeinfrei
Blick auf das Krematorium, Theresa Steigleder
Auf dem jüdischen Friedhof in Siegburg am 30.04.2008, v.l.n.r: Joachim Schmidt, Frau Wiesner (Joachim Wiesners Ehefrau), Volker Schmidt, Tova Wagman (Naftalis Lebensgefährtin), Naftali Fürst, Ronit Fürst (Naftalis Tochter), Cornelia Schmidt. Foto: Volker Schmidt