Wie lange standen die Häftlinge hier in ihrer dünnen Kleidung? Bis auf die Knochen abgemagert, ohne Hoffnung auf Wärme, viele nur mit der Aussicht, im Steinbruch zu arbeiten? Wieder und wieder wurde gezählt, stunden-, manchmal tagelang, bis alle Zahlen stimmten. Einige fielen um und wurden von ihren Kameraden aufgehoben und gestützt, damit sie nicht geschlagen wurden.
Ich gebe auf, raffe meine Sachen vom Boden und flüchte in den warmen Raum des Wachdienstes am Eingangstor. Der Mann bietet mir aus seiner Thermoskanne eine heiße Tasse Kaffee an, die ich mit zitternder Hand zum Mund führe.
Nein, man kann es nicht nachfühlen. Nein, man bekommt nicht einmal eine geringe Ahnung, wie es gewesen sein muss im Konzentrationslager Buchenwald, als Häftling.
Auf der linken Seite des Eingangs, von außen gesehen, befindet sich der Bunker, in dem Ungezählte und Ungenannte zu Tode gequält wurden. Von einigen kennt man die Namen und Leiden, zum Beispiel von Paul Schneider.
Paul Schneider. So ein gewöhnlicher Name, inzwischen so ein außergewöhnlicher Klang.
In einem meiner Streifzüge durch Weimar, meine Leserinnen und Leser, habe ich geschrieben, dass einem in Weimar die Geschichte schön und furchtbar begegnen kann. Und nun füge ich hinzu, dass einem in dem Furchtbaren ein solch mächtiges Licht der Selbstaufgabe um der Nächsten willen begegnen kann, dass man trotz allem den Glauben an den Menschen und seine Bestimmung nicht zu verlieren braucht.
Nur Wenigen ist es gegeben, diese resignatio ad infernum, die vollständige Hingabe und damit unmittelbare Gotteserfahrung zu versuchen. Paul Schneider war einer dieser Wenigen.
Für ihn war die Nachfolge Christi Dienst am Nächsten, der auch im Konzentrationslager keine Einschränkungen erlaubte und keinen Raum für persönliche Rücksicht ließ. Das erfüllt auch jene, die keine Christen sind, mit hoher Achtung und Demut.
Paul Schneider wurde am 18. Juli 1939 durch eine Injektion auf der Krankenstation des Konzentrationslagers ermordet.
Es gibt in Weimar seit 1954 auch eine Paul-Schneider-Straße und seit 1988 das Evangelische Gemeindezentrum „ Paul Schneider" in Weimar-West.
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Fotos: Christoph Werner