Weimar-Lese

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Weimar-Skizzen
Wunderschöne Ansichten der Klassikerstadt - gezeichnet von Gerhard Klein (3. Aufl. 2010, erschienen im Bertuch Verlag).
Rudolf Keßner

Rudolf Keßner

Florian Russi

Was des Bürgers Recht ist.
Rudolf Keßner
Rudolf Keßner

Fast alle Weimarer kennen ihn und bei den Wahlen zum Stadtrat ist er´s, der seit 1990 die Stimmen für die Bürgerrechtsbewegung NEUES FORUM, ab 1994 für Bündnis 90/Die Grünen, auf seinen Namen zieht. Auch Alt-Funktionäre der ehemaligen DDR und politisch Andersdenkende zollen ihm Respekt. Rudolf Keßner stand im Beruf und im gesellschaftlichen Leben immer auf der Seite der freien und selbstbestimmten Bürger, und Bürger sind für ihn alle Bewohner eines Landes, unabhängig von ihrer Herkunft oder Weltanschauung

So entspricht es auch seiner familiären Tradition. Einige seiner Vorfahren waren Württemberger und Salzburger Exulanten. So nannte man die Menschen, die wegen ihres protestantischen Glaubens verfolgt und aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Viele flohen ins protestantische Preußen. Rudolf Keßners Vorfahren zog es jedoch in das Markgraftum Oberlausitz. Hier herrschten weniger der Fürst, König oder Bischof, sondern die Verwaltung des Landes organisierte über Jahrhunderte der „Sechs-Städte-Bund". Dies war der Zusammenschluss der Städte Zittau, Löbau, Bautzen, Lauban, Kamenz und Görlitz, die eine Art kleine Hanse bildeten und in denen das Bürgertum sich selbst regierte.

Die Oberlausitz ist ein multikulturelles Gebiet. Hier lebten und leben Deutsche und Sorben miteinander und die Bevölkerung war teils protestantisch, teils katholisch. Die benachbarten Landesherren, die Könige von Sachsen, Böhmen und Preußen sowie der Bischof von Meißen machten ihren Einfluss geltend, aber keiner war stark genug, die anderen zu dominieren. Also arrangierte man sich, was u. a. dazu führte, dass man die Bischofskirche in Bautzen in Folge der Reformation in einen protestantischen und einen katholischen Teil aufgliederte und Absprachen über die Zeiten traf, in denen jeder seine Messe feiern durfte. In der Oberlausitz fassten auch aus Mähren verfolgte und vertriebene Nachkommen deutschstämmiger Hussiten der alten Brüdergemeinden Fuß. Sie gründeten den Ort Herrnhut - das bedeutet „unter des Herren Hut", unter Gottes Hut.

In diese Vielfalt fügten sich Keßners Vorfahren als Handwerker und Lehrer ein. Seit 1865 bis heute sind sie im Graphischen Gewerbe und dem Fotografenhandwerk tätig. Buchdruckereien und Zeitungsverlag wurden von den ab 1945 herrschenden Kommunisten zwangsweise stille gelegt. Die Herstellung von Stempel und Siegel, der Handel mit Bürobedarf bildeten die Arbeitsfelder der Familie. Man war evangelisch-lutherischen Glaubens, einige zugleich Mitglieder einer Loge der Freimaurer. Beides führte dazu, dass in der Familie der Abstand zu den Nationalsozialisten oder später zu den Einheitssozialisten in der DDR groß war. Das führte zu Repressionen durch die Regierenden.

Keßners Eltern waren sehr heimatverbunden. Deshalb kam für sie eine Abwanderung nach Westdeutschland nicht in Betracht. Weil sie ihrem Sohn eine christliche Erziehung geben wollten und er nicht bereit war, sich einer sozialistisch-kommunistischen Organisation anzuschließen, schickten sie ihn auf das Internat der Herrnhuter Brüdergemeine, der einzigen in der DDR noch bestehenden christlichen Internatsschule, eine Enklave in einem einheitlich sozialistischen Umfeld. Aufgrund der weltweiten Vernetzung dieser kleinen Brüdergemeine der Herrnhuter erlebten die Bewohner Herrnhuts auch Afrikaner, Chinesen, Indianer und Surinamesen in ihrer Stadt. Hier wurde Rudolf Keßner mit einer strikten humanistischen Ethik vertraut. Es wurde nicht nur gelernt und gebetet, sondern auch gearbeitet und organisiert. Zum Weltbild der Herrnhuter gehört es auch, wirtschaftliche Unternehmen zu gründen.

Vier Jahre besuchte Keßner das christliche Internat, dann wechselte er an die Erweiterte Oberschule in Löbau. Pflichtfach in dieser grenznahen Stadt war Tschechisch. Als 18-jähriger Schüler studierte er die Schriften der Prager Intellektuellen, der Reformsozialisten. Der „Prager Frühling" führte auch unter den Schülern zu einer Aufbruchsstimmung. Im August 1968 musste er vor Ort in Prag, gemeinsam mit vielen Freunden in der CSSR, erleben,  auf welch brutale Weise das kleine Pflänzchen Demokratie durch die Staaten des Warschauer Pakts abgewürgt und niedergeschlagen wurde. Auch diese Erfahrung hat ihn geprägt. Zurück in Löbau beteiligte er sich an Widerstandsaktionen von Schülern, die ihn in große Schwierigkeiten brachten. Nach dem Abitur begann er ein Studium der Druckverfahrenstechnik. Er wurde aber bereits nach einem halben Jahr exmatrikuliert, weil er sich politisch resistent gezeigt hatte und zudem noch den Wehrdienst an der Waffe in der Nationalen Volksarmee verweigerte. Er wurde von der Ausbildung an sämtlichen akademischen Bildungseinrichtungen in der DDR ausgeschlossen. Auch eine fachgerechte Arbeitsstelle war für ihn nicht zu erhalten. Als gemusterter „Bausoldat" gehörte er ab sofort zu den de facto Ausgestoßenen der realsozialistischen Gesellschaft und stellte sich zum Dienst als Totengräber auf dem Friedhof in Löbau zur Verfügung.

Firmenlogo von STEMPEL-RABE
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Wie schon einige seiner Vorfahren erlernte er den Beruf des Flexographen (Stempelmacher), ein Metier, für das zu dieser Zeit in der DDR dringend Nachwuchs gesucht wurde. Sein Weg führte ihn später dann nach Weimar. Dort suchte die im Ort sehr bekannte Firma „Stempel-Rabe" einen Nachfolger. Nach Ablegen der Handwerksmeisterprüfung konnte Keßner den kleinen Privatbetrieb kaufen. 1971 heiratete Rudolf Keßner seine Jugendliebe Katharina, mit der er schon gemeinsam den Klavierunterricht bei seiner Großmutter besucht hatte. Die beiden bekamen vier Kinder.

In Weimar blieb Keßner seinen christlich-humanitären Überzeugungen treu. Er engagierte sich in Menschenrechtsgruppen, die sich unter dem Dach der Evangelischen Kirche zusammengefunden hatten, beriet Wehrdienstverweigerer und Menschen, die mit dem herrschenden System in Widerspruch geraten waren. Mehrfach wurde er deshalb von der Staatssicherheit vorgeladen, verhört und inhaftiert.

Letzteres war das erste, was ich von Menschen unterschiedlicher Couleur über ihn erfuhr. Umso mehr bin ich darüber verwundert, dass es fünfzehn Jahre gedauert hat, bis er rechtlich rehabilitiert und als Opfer und Verfolgter des SED-Unrechts anerkannt wurde. „Er verstößt gegen die Bildungsdisziplin" hieß es in einem Zeugnis über den damals 28-jährigen Bausoldaten, und was Bürokraten zu Papier bringen, behält so oft über die politischen Systeme hinweg seine Wirkung.

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Fotos mit freundlicher Genehmigung von: STEMPEL-RABE WEIMAR

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