Der Eindruck, meine Leserinnen und Leser, den Jakob Ludwig Felix Mendelssohn Bartholdy als Zwölfjähriger auf Goethe und seine Weimarer Zeitgenossen machte, ist kaum zu beschreiben und doch von vielen in Berichten und Briefen überliefert worden. Nun möchte ich Ihnen ausschnittsweise einen Brief zur Kenntnis geben, den Felix selbst nach seiner ersten Begegnung mit Goethe an seine Eltern geschrieben hat.
„6. November 1821. Jetzt hört alle, alle zu. Heut ist Dienstag. Sonntag kam die Sonne von Weimar, Goethe, an. Am Morgen gingen wir in die Kirche, wo der 100. Psalm von Händel halb gegeben wurde. ... Nach zwei Stunden kam Professor Zelter: „Goethe ist da. Der alte Herr ist da." - Gleich waren wir die Treppe herunter in Goethes Haus. Er ist sehr freundlich, doch alle Bildnisse von ihm finde ich nicht ähnlich. ... Nach Tische bat sich Ulrike, die Schwester der Frau von Goethe, einen Kuß aus, und ich machte es ebenso. Jeden Morgen erhalte ich vom Autor des Faust und des Werther einen Kuß, und jeden Nachmittag vom Vater und Freund Goethe zwei Küsse. Bedenkt! Nachmittag spielte ich Goethe über zwei Stunden vor, teils Fugen von Bach, teils phantasierte ich. Den Abend spielte man Whist, und Professor Zelter, der zuerst mitspielte, sagte: „Whist heißt, du sollst das Maul halten." Ein Kraftausdruck! Den Abend aßen wir alle zusammen, auch sogar Goethe, der sonst niemals zu Abend ißt. Nun, meine liebende, hustende Fanny: Gestern früh brachte ich Deine Lieder der Frau von Goethe, die eine hübsche Stimme hat. Sie wird sie dem alten Herrn vorsingen. Ich sagte es ihm auch schon, daß Du sie gemacht hättest, und fragte, ob er sie wohl hören wollte. Er sagte: ja, ja, sehr gerne. Der Frau von Goethe gefallen sie besonders. Ein gutes Omen. Heute oder morgen soll er sie hören. ...
(zitiert nach Biedermann, S. 329 f.)
In den deutschen Darstellungen des Lebens und Werks des so jung gestorbenen Komponisten, Pianisten, Dirigenten und Lehrers kommen meistens die Bedeutung, die Mendelssohn für Großbritannien gespielt hat und die Rolle, die Großbritannien für seine Musik gespielt hat, zu kurz.
Mendelssohn hielt sich mindestens zehn Mal für kurze oder längere Zeit in England und Schottland auf. Im Sommer des Jahres 1829 war er zum ersten Mal in Schottland, wo er in Abbotsford Sir Walter Scott traf.
In einem Brief von den Hebriden beschrieb er die Brandung an der schottischen Küste und notierte die ersten Takte der zauberhaften Hebridischen Ouvertüre, die auch als „Fingals Höhle" bekannt ist. (Fingals Höhle ist auch ein berühmtes Gemälde des Malers William Turner, und der Architekt Karl Friedrich Schinkel beschrieb die Höhle in dem Bericht über seine Reise nach England und Schottland).
Mendelssohn wurde in England sehr bekannt und verehrt, und Königin Viktoria schätzte ihn vor allen anderen Komponisten. Mendelssohn beschrieb seinen Besuch bei der Queen und ihrem Gemahl Albert im Buckingham Palace im Jahre 1843 mit leichter Ironie, aus der man erkennt, dass er sich des Pompes und Hohlheit des englischen Königtums trotz aller Zugeneigtheit des Königspaares bewusst war.
Mendelssohns Einfluss auf die englische Musik seiner Zeit lässt sich - mutatis mutandis - durchaus mit dem Einfluss Händels in Großbritannien vergleichen.