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Okzident und Orient
Die Faszination des Orients im langen 19. Jahrhundert

Klaus-Werner Haupt

In siebzehn Kapiteln werden neunzehn Persönlichkeiten des langen 19. Jahrhunderts vorgestellt, deren Texte, Bilder und Erfindungen deutlich machen: Okzident und Orient sind nicht zu trennen.

Gabriele Reuter

Gabriele Reuter

Klaus-Werner Haupt

Eine zu Unrecht vergessene Schriftstellerin

Im Jahre 1854 gaben sich der damalige Sekretär des preußische Konsulats in Ägypten Karl Reuter (1822–1872) und die in Magdeburg aufgewachsene Johanna Behmer (1830–1903) das Ja-Wort. In Alexandria wurde am 8. Februar 1859 in Anwesenheit einer französischen Hebamme, einer italienischen Wartefrau und einer afrikanischen Amme die gemeinsame Tochter Gabriele geboren. Die Kleine ging mit ihren Eltern auf Reisen: Zunächst in die ägyptische Hauptstadt Kairo, im Sommer 1860 nach Europa. In der anhaltischen Residenzstadt Dessau lebte die Großmutter Behmer. Dort wurde im selben Jahr auch der älteste Bruder Thomas geboren. Auf ihn folgten Albert (1862 Alexandria), Martin und Carlo (1864 und 1866 Dessau). Die Schwester Valerie (1870 Alexandria) verstarb im Kleinkindalter. Ab 1864 führte die Familie in Dessau einen zweiten Haushalt, während der Vater zwischen Deutschland und Ägypten hin und her reiste. 1868 geriet der Textilgroßhändler Karl Reuter unverschuldet in Schwierigkeiten. Die Wohnung in Dessau wurde aufgegeben, im Februar 1869 ging die ganze Familie zurück nach Alexandrien. Das orientalische Milieu verschaffte Gabriele (Ella) und ihren Brüdern unvergessliche Erlebnisse. Drei Jahre später war das „Kindermärchen“ zu Ende, die Heranwachsenden sollten eine standesgemäße Erziehung in Deutschland erhalten.

Zu Pfingsten des Jahres 1872 erreichte die Familie Reuter das Dorf Althaldensleben bei Magdeburg. Das Haus der Tante Auguste Oberbeck (1819–1904) am Adlerplatz wurde ihr neues Zuhause. Nur wenige Gehminuten entfernt befand sich ein ehemaliges Klostergut, seit vier Jahrzehnten im Besitz der Familie Nathusius. Dem namhaften Unternehmer Johann Gottlob von Nathusius (1760–1835) setzten Johann Wolfgang von Goethe, Clemens Brentano und Carl Immermann literarische Denkmale. Auf jenem Klostergut verliebte sich die dreizehnjährige Gabriele in ihren Vetter, den Kürassier Jacobus von Nathusius (1854–1909). Der plötzliche Tod des Vaters am 14. Oktober 1872 riss das „romantisch-wundersüchtige“ Mädchen aus seinen Träumen.

Bürgerbüro Markt 20–22 in Haldensleben
Bürgerbüro Markt 20–22 in Haldensleben

Ihre nächste Station wurde das Breymannsche Institut in Wolfenbüttel (Neu-Watzum). Dort wurden Mädchen aus bürgerlichem Hause auf die pädagogische Arbeit mit Kindern vorbereitet. Finanzielle Sorgen zwangen Gabriele Reuter, diese Ausbildung zu Ostern 1873 abzubrechen. Die Mutter hatte beschlossen, sich mit ihren Kindern in Neuhaldensleben niederzulassen. Im Obergeschoss des Kaufmannshauses Prömmel, Markt 21 – in Sichtweite des Reitenden Roland – fand die sechsköpfige Familie eine bescheidene Unterkunft. 1874 wechselte die Familie auf das Grundstück der Brauerei und Mineralwasserfabrik Heinrich, Burgwall 5. Ein artesischer Brunnen, Bäume und Blumen weckten Erinnerungen an die Gärten des Orients ...

Im Mai 1875 folgte Gabriele Reuter einer Einladung ihrer Tante Auguste Oberbeck. Die 60-Jährige hatte einen Neuanfang gewagt: Sie war von Althaldensleben nach Weimar umgezogen, um Musik zu studieren. In der Wilhelmsallee (heute Leibnizallee 4), lebten damals auch Gabrieles Onkel, der Porträt- und Historienmaler Hermann Behmer (1831–1915), und dessen „genialische“ Frau. Angeregt von der geistigen Atmosphäre der Klassikerstadt kehrte Gabriele Reuter mehrfach zurück und versuchte sich selbst im Schreiben. Nicht zuletzt ihre orientalischen Kindheitserlebnisse boten ausreichend Stoff. Zu Gabrieles Förderin wurde Johanna Oberbeck-Achten, die jüngere Schwester Auguste Oberbecks. Sie war einst mit Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798–1874) bekannt gewesen und hatte eigene Novellen in der Magdeburgischen Zeitung veröffentlicht. Darin fanden sich bald die Erinnerungsblätter aus Aegypten (1878/80) ihrer Nichte Gabriele wieder.

Am Burgwall 5
Am Burgwall 5

Im September 1879 fasste Johanna Reuter den Entschluss, Neuhaldensleben zu verlassen und mit ihrem Sohn Martin und ihrer Tochter Gabriele ganz nach Weimar, Marstallstraße 5 überzusiedeln. Im Kreise von Künstlern atmete Gabriele „Heimatluft“. Ein Jahr später erfolgte der Umzug in die Kurthstraße 7a (heute Bauhausstraße), ab 1882 bewohnten die Reuters die Parterrewohnung im Hause Behmer. Doch nach einem Jahrzehnt wirkten die Verhältnisse, die einst beflügelten, wie „lähmendes Gift“. Ihre Erlebnisse verarbeitete die 30-jährige Gabriele Reuter in Episode Hopkins. Zu spät. Zwei Studien (1889).

Frischen Wind versprach die bayerische Metropole München. Im Café & Restaurant Isarlust, Praterinsel 5 traf sich die Bohème zum Gedankenaustausch. Gabriele Reuter fasste den Entschluss, „den Stier bei den Hörnern zu packen“. In Verehrung des englischen Romantikers Lord Byron wollte sie – leider „ein halbes Jahrhundert zu spät geboren“ – der Welt das Schicksal eines bürgerlichen Mädchens schildern. 1891 wieder zurück in Weimar traf sie auf einen verständigeren Freundeskreis, zu dem auch der Archivar Eduard von der Hellen (1863–1927) und der Goetheforscher Rudolf Steiner (1861–1925) gehörten. Steiner und Reuter wohnten nicht weit voneinander entfernt in der Junckerstraße (heute Trierer Straße). Häufig führte sie der gemeinsame Weg hinauf in die Tiefurter Allee. Im Hause des Dramatikers Hans Olden (eigentlich Oppenheim, 1859–1932) und seiner Frau Grete stellte Gabriele Reuter ihren tiefenpsychologischen Roman Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens (1895) vor. Das Schicksal der Antiheldin Agathe sollte provozieren, einen Beitrag zum Verständnis der Probleme lediger Mädchen „aus gutem Hause“ leisten. Der Roman avancierte zu einem Bestseller.

Im Herbst 1895 siedelte Gabriele Reuter mit ihrer Mutter nach München, Seestraße 41/2 um. Von Schwabing aus erkundete sie die Gegend um den Starnberger See. Im Seehotel Leoni, Gemeinde Berg lernte die 38-Jährige den in München ansässigen Schriftsteller und Privatgelehrten Benno Rüttenauer (1855–1940) kennen. Am 18. Oktober 1897 wurde im Geburtshaus für ledige Mütter in Erbach an der Donau ihre Tochter Elisabeth (Lili) geboren. Der Roman Das Tränenhaus (1908) schildert die dortigen Verhältnisse. Im Gegensatz zu der zum Wahnsinn getriebenen Antiheldin meisterte Gabriele Reuter ihre Mutterschaft auch ohne Ehepartner. 1899 zog sie mit Tochter Lili und ihrer kränklichen Mutter nach Berlin-Wilmersdorf um. In der Ludwigkirchstraße 2 entstanden weitere Werke, die sich durch die feinfühlige Schilderung seelischer Zustände auszeichnen. Thomas Mann bezeichnete Gabriele Reuter 1904 als die „vielleicht souveränste Frau, […] moderner als alle streitbaren Frauenzimmer der Neuzeit“ ( 1 ).

Interessant ist auch der Weg ihrer Brüder. Thomas leitete eine Zuckerfabrik in Argentinien, Albert übernahm eine Kakaoplantage in Brasilien. Martin wurde ein erfolgreicher Arzt und ließ sich in Dresden nieder. Carlo arbeitete als Kaufmann in New York; 1925 verstarb er in Wiesbaden. Gabriele Reuter selbst kehrte 1929 nach Weimar, Carl-Alexander-Allee 5 (heute Freiherr-vom Stein-Allee) zurück. Die Weltwirtschaftskrise (1929–1932) brachte die 70-jährige um ihre Ersparnisse. Auch am Thema Emanzipation bestand kein Interesse mehr. So arbeitete sie während der nächsten zehn Jahre als Rezensentin für die New York Times. Noch bevor ihre Sehkraft nachließ, wurde Gabriele Reuter von ihrer Tochter Lili unterstützt. Deren Ehe mit dem Berliner Maler Johannes Maximilian Avenarius (1887–1954) war nach vier Jahren gescheitert. 1939 zogen Mutter und Tochter in die Pension der Burg- und Reichsgräfin Margarete (Daisy) zu Dohna-Schlodien (†1969), Am Horn 39.

Am 13. November 1941 verstarb Gabriele Reuter. Ihr Nachlass befindet sich zwar im Goethe- und-Schiller-Archiv, ihr Grab auf dem Historischen Friedhof zu Weimar ist aber nicht mehr auffindbar. In Haldensleben erinnert eine Gedenktafel am Bürgerbüro, Markt 20–22 an die zu Unrecht vergessene Schriftstellerin.



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Quellen:

Reuter, Gabriele: Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens. Fischer Berlin 1895

Reuter, Gabriele: Vom Kinde zum Menschen. Die Geschichte meiner Jugend. Fischer Berlin 1921

Hauer, Ulrich: Gabriele Reuter – Jugendjahre in Haldensleben. In: Jahresschrift der Museen des

Landkreises Börde. Band 49 (16), Haldensleben 2009

Hecker, Jutta: Rudolf Steiner in Weimar. Verlag am Goetheanum, Dornach 1985, S. 72–75

Seemann, Annette: Gabriele Reuter. Leben und Werk einer geborenen Schriftstellerin.

Weimarer Verlagsgesellschaft 2016

Anmerkungen:

( 1 ) Mann, Thomas: Gabriele Reuter. In: Der Tag (Berlin), Nr. 75 vom 14. Februar 1904. In:

Reuter/Mellmann: Aus guter Familie, Anm. 21, S. 471

Fotos:

( 1 ) Gabriele Reuter in München 1896. Druck nach einem Foto im Roman Vom Kinde zum

Menschen (1921). In: Jahresschrift der Museen des Landkreises Börde, Bd. 49 (16).

Haldensleben 2009, S. 68.

( 2 ) Bürgerbüro Markt 20–22 in Haldensleben. Foto: Ulrike Klamke (2015)

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